Das Hämorrhoidalleiden gilt insbesondere unter älteren Menschen als weit verbreitet. Zwar fehlen genaue Zahlen, doch Experten schätzen, dass mindestens die Hälfte der Über-60-Jährigen unter der krankhaften Vergrößerung und Ausstülpung der Hämorrhoiden – den blutgefüllten Polstern am Ende des Verdauungstraktes – leiden könnte.
Zu den Ursachen dieser Volkskrankheit ist bereits viel spekuliert worden, wissenschaftliche Daten gab es bisher jedoch kaum. Nun hat ein großes interdisziplinäres Team, unter anderem aus Genetikern, Bioinformatikern, Anatomen und praktizierenden Proktologen, zum ersten Mal etwas Licht ins Dunkel gebracht.
Die Gruppe um Prof. Dr. Andre Franke, Vorstandsmitglied des Exzellenzclusters „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ und Direktor des Instituts für Klinische Molekularbiologie der Christian-Albrechts-Universität und des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein Kiel, hat das Erbgut von fast 1 Million Menschen weltweit analysiert – und ist dabei auf 102 Regionen im menschlichen Genom gestoßen, die Risikogene für das Hämorrhoidalleiden enthalten. Bislang war keine dieser Erbanlagen bekannt gewesen. Veröffentlicht ist die Studie in der Fachzeitschrift Gut [1].
Gewebeproben bestätigten die Ergebnisse der DNA-Analysen
Die Forscher untersuchten die DNA von 218.920 Patienten mit einem Hämorrhoidalleiden und von 725.213 Vergleichsprobanden. Dafür griffen sie auf Proben und Datensätze aus mehreren großen populationsbasierten Kohorten zurück, die zusammen als repräsentativ für die Gesamtbevölkerung gelten. Unter anderem konnte das Team Datensätze des US-amerikanischen Biotech-Unternehmens 23andMe nutzen.
Im Anschluss an die DNA-Analysen untersuchten die Wissenschaftler Zellen aus Hämorrhoiden-Gewebeproben, die bei Operationen entnommen worden waren. „In den Zellen konnten wir tatsächlich Proteine nachweisen, für die die von uns entdeckten Risikogene kodieren“, sagt Franke im Gespräch mit Medscape. „Auf diese Weise haben wir erstmals konkrete Antworten auf die Frage gefunden, welche Funktionen des Organismus bei einem Hämorrhoidalleiden gestört sind und so die Symptome – angeschwollene Hämorrhoiden, die mit Juckreiz, Brennen und Blutungen verbunden sein können – hervorrufen.“
Ein verändertes Gen reduziert die Darmperistaltik
Franke zufolge deuten die Ergebnisse der Untersuchungen darauf hin, dass das Hämorrhoidalleiden zumindest teilweise auf veränderte Stoffwechselwege in der glatten Muskulatur, im Bindegewebe oder in den Blutgefäßen zurückzuführen ist. „Langfristig könnte unsere Grundlagenforschung dabei helfen, neue nicht-invasive Therapien zu entwickeln“, sagt der Genetiker. Bisher werden Hämorrhoidalleiden schwereren Grades überwiegend chirurgisch, durch Entfernen des überschüssigen Gewebes, behandelt.
Darüber hinaus hoffen Franke und seine Kollegen, dass ihre Studie zu einer Enttabuisierung der Krankheit beiträgt – an der noch immer viele Patienten lieber still leiden, anstatt ihrem Arzt davon zu berichten.
Unter anderem stießen die Forscher um Franke bei den Patienten mit einem Hämorrhoidalleiden auf ein verändertes Protein, das für die Schrittmacherzellen in der glatten Muskulatur des Darms – und somit für die Motilität des Magen-Darm-Trakts – wichtig ist. „Dies erklärt zum Beispiel, warum laut unserer Studiendaten ein Hämorrhoidalleiden oft gemeinsam mit einem Reizdarmsyndrom auftritt“, erläutert der Anatom und ehemalige Chirurg Prof. Dr. Thilo Wedel, Direktor des Zentrums für Klinische Anatomie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, der an der Studie ebenfalls entscheidend beteiligt war, gegenüber Medscape.
„Zudem können die neuromuskulären Veränderungen am Darm verstärkt zu Durchfall oder Verstopfung führen“, sagt Wedel. „Beides begünstigt ausgedehnte Toilettengänge oder zu starkes Pressen, was wiederum einen Prolaps der Hämorrhoiden hervorrufen kann.“ Sowohl zu weicher als auch zu harter Stuhlgang sollten dem Mediziner zufolge daher nicht unbehandelt bleiben.
„In den meisten Fällen kann man schon viel mit einer Ernährungsumstellung erreichen“, sagt Wedel. Gegen die Obstipation zum Beispiel helfe bekanntlich ballaststoffreiche Kost in Verbindung mit ausreichend Flüssigkeit.
Ein wichtiger Auslöser ist ein schwaches Bindegewebe
„Darüber hinaus konnten wir feststellen, dass ein schwaches Bindegewebe maßgeblich zu der Entstehung krankhaft vergrößerter Hämorrhoiden beiträgt“, berichtet Wedel. So seien wichtige Bestandteile des Bindegewebes wie Elastin und Kollagen bei Patienten mit einem Hämorrhoidalleiden oft verändert. Patienten können daher dem Mediziner zufolge oft zusätzlich an einer Divertikelerkrankung des Darms, an einer Senkung des Beckenbodens, an Gefäßleiden wie beispielsweise Krampfadern oder an Hernien leiden. All diese Beschwerden gehen ebenfalls unter anderem auf ein geschwächtes Bindegewebe zurück.
„Der behandelnde Arzt sollte daher solche Komorbiditäten berücksichtigen und gegebenenfalls entsprechende Untersuchungen einleiten“, rät Wedel. Zudem könne ein geeignetes Beckenbodentraining den Patienten helfen, die Verschlussfunktion des Enddarms und damit den Verlauf des Hämorrhoidalleidens positiv zu beeinflussen. Übergewicht, langes Sitzen und das abrupte Heben von schweren Gegenständen, auch beim Kraftsport, sollten nach Möglichkeit vermieden werden.
Menschen mit einem erhöhten Risiko könnten früh identifiziert werden
In einem weiteren Schritt berechneten die Forscher aus den identifizierten Risikogenen sogenannte polygene Risikoscores (PRS). Diese geben für verschiedene Kombinationen einzelner Risikogene jeweils das Gesamtrisiko für ein Hämorrhoidalleiden an. Anschließend überprüften die Wissenschaftler die Korrektheit der ermittelten PRS anhand der genetischen und klinischen Daten von 180.435 Patienten mit einem ausgeprägten Hämorrhoidalleiden, die in die ursprüngliche Genanalyse nicht miteinbezogen gewesen waren.
„Es zeigte sich, dass ein höherer PRS tatsächlich mit einem erhöhten Risiko einherging“, berichtet Franke: „Vor allem Patienten, die bereits jung erkrankten oder schon mehrfach wegen ihres Hämorrhoidalleidens operiert werden mussten, wiesen hohe Risikoscores auf.“
Weitere Studien mit Probanden mit einem hohen PRS, aber wenig oder keinen Symptomen könnten daher helfen, Faktoren zu finden, die vor der Entstehung eines Hämorrhoidalleidens schützen, hofft Franke.
Darüber hinaus seien die PRS womöglich hilfreich, um Menschen mit einem erhöhten Risiko für schwere Ausprägungen künftig frühzeitig zu identifizieren und genauer zu begleiten, ergänzt Prof. Dr. Volker Kahlke, niedergelassener Proktologe in Kiel, von dessen Patienten ein Großteil der für die Studie genutzten Gewebeproben stammen. „Auch könnten die so identifizierten Personen möglicherweise besonders von einer präventiven Lebensweise profitieren“, sagt Kahlke.
Gorillas und Paviane haben nur schwach ausgeprägte Hämorrhoiden
Nicht nur das Hämorrhoidalleiden war bislang wenig erforscht. Auch über die Hämorrhoiden selbst ist bisher nur wenig bekannt. Wedel und sein Kollege am Kieler Anatomischen Institut, Prof. Dr. Francois Cossais, haben daher im Rahmen der aktuellen Studie zusätzlich vergleichende Untersuchungen an verschiedenen Tierarten vorgenommen. Vorrangig wollten die Wissenschaftler klären, ob bei Gorillas, Pavianen und Mäusen solche analen Blutgefäß-Schwellkörper ebenfalls vorhanden sind.
„Während der Mensch über sehr gut entwickelte Hämorrhoidalpolster verfügt, sind diese beim Gorilla und Pavian zunehmend geringer ausgeprägt und bei der Maus gar nicht mehr zu finden“, berichten Wedel und Cossais. „Wahrscheinlich sind diese Unterschiede dem aufrechten Gang des Menschen geschuldet, bei dem ein sicherer Verschluss des Analkanals besonders wichtig ist.“ Nur mithilfe der kissenartigen Blutgefäße sei gewährleistet, dass auch flüssige und gasförmige Bestandteile des Darminhalts nicht unbeabsichtigt nach außen treten.
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Diesen Artikel so zitieren: „Schwaches Bindegewebe“ ist keine Mär – Kieler Forscher spüren die genetischen Triebfedern von Hämorrhoidalleiden auf - Medscape - 14. Mai 2021.
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