MEINUNG

Warum Social Media auf unser Hirn wie Fastfood wirkt – und dies zu falschen Einschätzungen von COVID-19 führt

F. Perry Wilson, MD, MSCE

Interessenkonflikte

14. Mai 2021

Dieses Transkript ist eine Übersetzung von einem Videobeitrag von der US-Ausgabe von Medscape und wurde zur besseren Lesbarkeit redigiert.

Willkommen bei Impact Factor, Ihrer wöchentlichen Dosis an Kommentaren zu neuen medizinischen Studien. Ich bin Dr. F. Perry Wilson von der Yale School of Medicine.

Medizinische Fehlinformationen sind nichts Neues, aber ich denke, wir sind uns alle einig, dass die Coronavirus-Pandemie solche Trends befeuert hat. Zum 1. Mal in unserer jüngsten Geschichte haben wir ein medizinisches Problem, das alle betrifft. Es ist beängstigend und ist buchstäblich aus dem Nichts aufgetaucht. Und die Effekte, die die Infektion hat, muten  bizarr an – von asymptomatischen Erkrankungen über eine verstörend hohe Zahl an Todesfällen bis hin zu seltsamen, langfristigen Symptomen, bekannt als Long-COVID.

Neben der eigentlichen Pandemie durch COVID-19 haben wir aber zusätzlich eine  „Infodemie“ (eine Art pandemieartige Ausbreitung von Fake-News) über Social Media.

Was steckt dahinter? Wie genau führen uns soziale Medien zu falschen Schlussfolgerungen? Ich habe selbst keine große Social-Media-Präsenz, erlebe aber dennoch die Schattenseite solcher Kommunikationskanäle. Einige Beispiele:

Hier hat mich jemand als Quacksalber bezeichnet, aber es kommt noch schlimmer.  

 

Hier sagt einer, dass ein Video, das ich über Blutgruppen und COVID-19 gemacht habe, vorsätzlicher Betrug wäre.

 

Und hier ist jemand, der ... na ja ... weiter draußen unterwegs ist.

 

Auf jeden Fall ist es keine Magie, wie uns soziale Medien von der Wahrheit wegführen. Sie nutzen einige wirklich gut erforschte kognitive Phänomene des menschlichen Gehirns. Im Zentrum der Problematik steht folgender Algorithmus:  

 

Social-Media-Algorithmen sollen Ihnen Inhalte zeigen, die denen ähneln, mit denen Sie sich zuvor beschäftigt haben. Dieser Service soll Ihre Interaktion mit Social Media verstärken. Der Algorithmus ist aber nicht entwickelt worden, um Ihnen die Wahrheit zu liefern – oder Themen anzubieten, die für Sie gut sind oder Sie glücklich machen. Ziel ist es, die jeweilige Website im Auge zu behalten.

Alle Probleme, die ich besprechen werde, haben darin ihren Ursprung. Wenn wir versuchen, diese Vorgaben zu verstehen, die die Social Media Firmen ausnutzen, wird das vielleicht helfen, das Problem zu lösen.

Hier sind 4 kognitive Verzerrungen, die soziale Medien ausnutzen, um uns zu falschen Überzeugungen zu führen. Es gibt natürlich noch mehr, aber das sind die wichtigsten.

1. Der Effekt der trügerischen Wahrheit

Darunter versteht man die Tendenz, dass Menschen gerne Aussagen glauben, die ihnen vertraut sind – unabhängig davon, ob sie wahr sind oder nicht.

 

Je öfter eine Aussage wiederholt wird, desto wahrscheinlicher glauben wir sie auch. Haben Sie etwa davon gehört, dass der durchschnittliche Mensch pro Jahr angeblich 8 Spinnen im Schlaf verschluckt? Das ist völlig falsch, aber viele Menschen werden die Behauptung wahrscheinlich glauben, weil sie oft davon gehört haben.

In früheren Zeiten der Menschheitsgeschichte haben solche Gerüchte das allgemeine Lernen gefördert. Wenn einem mehrere Stammesmitglieder sagen, dass man die roten Früchte nicht essen solle, hat eine solche wiederholte Warnung wahrscheinlich Leben gerettet. 

Aber im Zeitalter der sozialen Medien ist das problematisch, weil uns Informationen nicht in ihrer logischen Abfolge präsentiert werden. Vielmehr sorgen die Algorithmen dafür, dass uns ähnliche „Fakten“ präsentiert werden wie die, mit denen wir uns zuvor schon beschäftigt haben.

Dies ist der „Echokammer-Effekt“ von Social Media, bei dem sich der Algorithmus schnell auf eine Weltsicht optimiert, die Ihnen vertraut vorkommt. Zwar reden alle über die gleiche Sache. Aber der Sachverhalt an sich kann dabei durchaus falsch sein.

2. Der Framing-Effekt

 

Je nachdem, wie ich Ihnen die Fakten präsentiere, kann ich Ihre Entscheidungen beeinflussen. Dieser Prozess wird Framing genannt.

In der Medizin könnte ein Chirurg einem Patienten sagen, dass er eine 95-prozentige Chance hat, eine Operation zu überleben. Oder er könnte sagen, dass sein Risiko, zu sterben, bei 5% liegt. Und diese unterschiedliche Darstellung der gleichen Daten wird die Entscheidung seines Patienten drastisch beeinflussen.

So ist es auch mit COVID-19-Statistiken. Sollen wir uns darüber freuen, dass 40% aller US-Erwachsenen vollständig geimpft worden sind? Oder sollten wir anprangern, dass 60% keinen Schutz durch Vakzine haben? Egal, welche Variante Sie als Information konsumieren, die gleiche Sichtweise auf einen Sachenverhalt wird Ihnen von Ihren Social Media Plattformen immer wieder präsentiert werden.

3. Der Salienz-Bias

Salienz (Auffälligkeit) bedeutet, dass ein Reiz aus der Flut an Informationen stärker wahrgenommen wird, weil er beispielsweise in uns Emotionen auslöst. Ein Beispiel: Erinnern Sie sich noch an den Sommer der Hai-Attacken?

Im Sommer 2001 berichteten große US-Nachrichtensender pausenlos über jede Haiattacke, die sich an US-amerikanischen Stränden ereignete, was viele Menschen veranlasste nicht ins Meer zu gehen. Dies obwohl tatsächlich laut Statistiken es weniger Hai-Angriffe und weniger Todesopfer (insgesamt 5 weltweit) als im Jahr zuvor gab.

In sozialen Medien führt der Salienz-Bias dazu, dass wir eine Aussage, die mit Emotionen in Verbindung steht, retweeten, teilen oder liken. Es gibt wohl keinen bekannteren Akteur dieses Bias als den früheren US-Präsidenten Donald Trump. Er hat kurze, emotionale Worte in seine Tweets gepackt. Diese Emotionen führten – Sie haben es erraten – zu Engagement bei den Nutzern von Social Media.

4. Motiviertes Denken

Vereinfacht ausgedrückt ist motiviertes Denken die Tendenz, nach Argumenten zu suchen, die das unterstützen, was man für wahr halten möchte, anstatt sich von den Fakten zur Wahrheit führen zu lassen.

 

Diese Tendenz ist wirklich schwer zu vermeiden, selbst für Wissenschaftler. Als Forscher kann ich Ihnen sagen, dass ich, wenn ich eine klinische Studie mit einer Intervention durchführe, wirklich will, dass sie funktioniert. Ich möchte den Menschen helfen. Aber wenn die Daten das nicht zeigen? Nun, man schluckt seinen Stolz herunter und schreibt seine negativen Ergebnisse auf, wie zum Beispiel in dieser Studie: Ich wünschte, das wäre ein hypothetisches Beispiel.

Aber das passiert seit Beginn der COVID-19-Ära überall in den sozialen Medien. Menschen posten Aussagen, von denen sie wollen, dass sie wahr sind, nicht Aussagen, die wahr sind.

Wir wollen, dass COVID-19 bald vorbei ist und wir wollen in unser normales Leben zurückkehren. Wir wollen glauben, dass wir und unsere Lieben sicher sind. Wir wollen glauben, dass es eine Therapie gibt, und außerdem, dass ein Heilmittel preisgünstig, leicht verfügbar und nebenwirkungsfrei ist. Jede Aussage in sozialen Medien, die solche Schlussfolgerungen unterstützt, wird verstärkt.

Das Problem ist einmal mehr der Algorithmus. Die Menge an Aussagen da draußen ist nahezu unendlich. Wenn Sie also Quellen finden, die unterstützen, was Sie für wahr halten, beschäftigen Sie sich damit. Dann werden Ihnen immer mehr Beiträge ähnlicher Art gezeigt, und so Ihre Meinung zu der Sache weiter verstärkt.

Ich weiß nicht genau, wie ich es sagen soll, aber ich ziehe folgendes Fazit: Wenn Sie in den sozialen Medien recherchieren, machen Sie etwas falsch. Diese Kanäle sind darauf ausgelegt, Ihre Überzeugungen zu verstärken, nicht diese zu hinterfragen. Unten finden Sie ein Zitat zu dieser Aussage, dass Sie in sozialen Medien teilen können. Die suggestive Bildsprache gibt Ihnen das Gefühl, dass die Aussage tiefgründiger zu sein scheint, als sie ist, und maximiert so das Engagement anderer Nutzer.

 

In aller Deutlichkeit sei also gesagt: Niemand ist gegen diese Effekte immun. Diese kognitive Voreingenommenheit hat sich über Jahrtausende hinweg fest in unseren Gehirnen verankert. Das war in der Evolution oft nützlich.

Aber soziale Medien wirken auf unsere Gehirne wie Fast Food auf unsere Körper. Tausende von Jahren lang war unsere Fähigkeit, überschüssige Energie als Fett zu speichern, buchstäblich lebensrettend. Jetzt ist sie schädlich. Und über tausende von Jahren hinweg führte unsere schnell denkende Heuristik zu einer Blüte der menschlichen Kultur. In Zeiten von Social Media führt diese Anpassung aber zu Fehlern.

F. Perry Wilson, MD, MSCE, ist außerordentlicher Professor für Medizin und Direktor von Yales Accelerator für klinische und translationale Forschung. Seine wissenschaftliche Kommentare finden sich in der Huffington Post, bei NPR und hier bei Medscape. Er  twittert unter @fperrywilson  und veröffentlicht auf  www.methodsman.com .

Der Artikel wurde von Michael van den Heuvel aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

 

Kommentar

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