Die Corona-Pandemie hat die Stärken und Schwächen des Gesundheitssystems in Deutschland aufgedeckt. Das betonten die Redner zur gestrigen Eröffnung des 124. Deutschen Ärztetages.
Während der Corona-Pandemie war das Gesundheitssystem „bei uns zu keinem Zeitpunkt überlastet“, betonte Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer. Das sei auch dem medizinischen Personal zu verdanken. Auch Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) dankte in ihrem Grußwort den Mitgliedern der Gesundheitsberufe für ihren Einsatz in der Pandemie.
Der Präsident erinnerte daran, dass rund 84.000 der in Deutschland 3,4 Millionen infizierten Menschen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gesundheitsberufe waren und sind. Szenen wie in Italien oder derzeit in Indien seien Deutschland wegen des großen Engagements der Gesundheitsberufe erspart geblieben.
„Wir hätten besser vorbereitet sein sollen.“
Allerdings haben sich in der Krise auch Schwächen des Gesundheitssystems offenbart, sagte Reinhardt – und das, obwohl man hätte gewarnt sein können. Schon die Bundesdrucksache 1712051 aus dem Jahr 2012, eine Risikoanalyse für den Fall eines fiktiven Virus, habe auf die Schwächen der Versorgung im Falle eine Pandemie hingewiesen.
„Der Text liest sich wie ein Drehbuch der letzten 15 Monate“, sagte Reinhardt: Eine Krankheit mit Symptomen wie Schüttelfrost und trockenem Husten, mit Gegenmaßnahmen wie der Absage von Großveranstaltungen und Quarantäne sowie Engpässen bei der Lieferung von Material und Desinfektionsmitteln.
„Wir hätten besser vorbereitet sein sollen“, sagte Reinhardt. Er forderte eine Reform des öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) und die bessere Honorierung der Ärzte im ÖGD. Es brauche zudem Reserven für medizinische Produkte im Land, gesetzlich verankerte Krisenstäbe und europaweit abgestimmte Meldestrukturen.
Reinhardt warnte in seiner Eröffnungsrede zum Ärztetag eindringlich vor einem Personalabbau in den Krankenhäusern. „Der Personalbedarf für Notfälle muss stärker berücksichtigt werden!“ Der BÄK-Präsident erinnerte daran, dass die Länder 2019 nur die Hälfte der notwendigen rund 6,2 Milliarden an Investitionskosten für ihre Krankenhäuser aufgebracht haben. Der Appell für eine humane und fürsorgliche Medizin reiche nicht. „Es braucht eine additive Ko-Finanzierung durch den Bund!“
Die Pandemie habe auch Lücken bei der Digitalisierung der medizinischen Versorgung aufgezeigt. „Nun will der Gesundheitsminister Tempo machen“, sagte Reinhardt. „Ich warne aber vor einer zu engen Taktung. Die Praxen haben oft keine Zeit, die neue Technik auf ihre Praxistauglichkeit hin zu überprüfen.“
Anwendungen, die nicht primär der Patientenbehandlung dienen, wie das e-Rezept oder die elektronische AU, sollten verschoben werden, meinte Reinhardt. Andere Anwendungen dagegen sollten zügig vorangebracht werden, etwa der elektronische Medikationsplan.
Vor allem müssten aber die Sanktionen fallen. Denn die Ärztinnen und Ärzte könnten nichts dafür, wenn Komponenten der elektronischen Patientenakte (ePA) bis zum 30. Juni nicht geliefert werden könnten. Auch bei der Auslieferung der elektronischen Heilberufe-Ausweise stocke der Nachschub. „Dieser Stau macht die Betriebsbereitschaft zum 30. 6. schlichtweg unmöglich“, so Reinhardt. „Wir appellieren, die Sanktionsmechanismen zu streichen oder zumindest auszusetzen.“
„Heilberufe-Ausweise besorgen! Es geht bald los!“
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wehrte sich gegen die Vorwürfe Reinhardts. „Ja, es stimmt, dass der ÖGD ein Nischendasein geführt hat“, so Spahn. Er erinnerte aber auch an den Pakt für den ÖGD, der 4 Milliarden Euro zur Verfügung stellen will und an die gegenwärtigen Anstrengungen, alle Gesundheitsämter über eine digitale Plattform zu vernetzen. „Das ist historisch!“, sagte Spahn.
Überhastet finde er das Tempo bei der Digitalisierung in den Praxen indessen gar nicht, erklärte der Minister in der anschließenden Diskussion mit Reinhardt. So sei beim Heilberufe-Ausweis die Produktionsmenge größer als die Menge der bestellten Ausweise, nicht umgekehrt, betonte Spahn.
Er sagte zu: Wo Ärztinnen und Ärzte die Vorgaben zur Digitalisierung in den Praxen objektiv nicht erfüllen könnten, würden auch keine Sanktionen greifen. Spahn appellierte an die Ärzteschaft, sich der Digitalisierung nicht zu verweigern: „Also, bitte die Heilberufe-Ausweise besorgen! Es geht bald los!“
Bei der Krankenhauspolitik mahnte Spahn an, Doppelstrukturen abzubauen. Nicht alle Krankenhäuser müssten alles anbieten. Statt auf Konkurrenz müsse auf Qualität gesetzt werden. Er selbst würde auch 1.000 Kilometer fahren, wenn er wüsste, dass das Inkontinenzrisiko bei einer Prostata-OP in einem fernen Krankenhaus geringer sei als in einem in der Nähe, so Spahn. Man baue ja auch Feuerwachen oder Polizeistationen nicht dicht nebeneinander, sondern dorthin, wo sie gebraucht würden.
Der Ärztetag am 4. und 5. Mai sollte eigentlich in Rostock stattfinden. Wegen der Pandemie wird er nun online abgehalten.
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Diesen Artikel so zitieren: Bundesärztekammerpräsident zur Eröffnung des 124. Ärztetages: „Wir hätten besser vorbereitet sein sollen“ - Medscape - 5. Mai 2021.
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