Frauen werden bis heute in vielen Leitlinien zur Pathophysiologie und Diagnostik von Herzerkrankungen ungenügend berücksichtigt. In ihrem Vortrag auf dem 127. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) sensibilisierte Dr. Ute Seeland, Fachärztin für Innere Medizin, am Beispiel des chronischen Koronarsyndroms für dieses Thema [1].
Unterschiedliche Pathophysiologien für Männer und Frauen
Die bereits im Jahr 2005 durchgeführte WISE-Study (Women’s Ischemia Syndrome Evaluation) beschreibt die verschiedenen Pathophysiologien bei den beiden Geschlechtern und zeigt, warum eine koronare Erkrankung beziehungsweise eine Ischämie im Myokard bei Männern und Frauen entsteht:
Ursachen bei Männern:
Gefäßverengung an einer oder mehreren Stellen im Koronargefäß,
epikardiale Vasomotionsstörungen (Spasmen).
Ursachen bei Frauen:
häufig generalisierte Erkrankung der Gefäßwand (z.B. weiche Plaques),
Längseinrisse der Gefäßwand (Dissektion, insbesondere in der Schwangerschaft),
mikrovaskuläre Vasomotionsstörungen.
KHK-Leitlinie berücksichtigt nur klassische männliche Symptome
Dass Frauen in vielen Leitlinien nicht berücksichtigt werden, erläuterte Gendermedizinerin Seeland am Beispiel der Nationalen Versorgungsleitlinie Chronische Koronare Herzkrankheit (KHK). Nach dieser Leitlinie ist eine nicht-stenosierende KHK definitionsgemäß asymptomatisch.
Seeland betonte jedoch, dass dies nur auf klassische männliche Symptome zutrifft. Nicht berücksichtigt werden hier die Symptome, die bei Frauen häufiger auftreten, wie etwa:
ungewöhnliche Müdigkeit, Schwindel,
Übelkeit, häufig mit Erbrechen,
Atemnot,
Schmerzen im Oberbauch,
Rücken und Nackenschmerzen sowie Kiefer- und Halsschmerzen.
Lichtblick: Die neuen Leitlinien werden „weiblicher“
Sowohl die 4. veröffentlichte Definition des Myokardinfarkts von 2018 als auch die neuen ESC-Leitlinien zu Diagnose und Management von chronischen Koronarsyndromen von 2019 erweitern die nicht-stenosierende KHK: Ein situativ erhöhter Sauerstoffbedarf des Myokards kann ebenfalls die Ursache einer Ischämie und damit symptomatisch sein.
Obwohl die ESC-Leitlinien beispielsweise eigene Kapitel zur mikrovaskulären oder vasospastischen Angina den Unterschieden zwischen Geschlechtern widmet, wies Seeland darauf hin, dass diese Leitlinien lediglich ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer echten geschlechtersensiblen Leitlinie darstellen.
Interventionelle diagnostische Prozedur: Dosis an Geschlecht anpassen
Um sowohl klassische männliche als auch klassische weibliche Pathophysiologien zu identifizieren, wird mittlerweile die interventionelle diagnostische Prozedur (IDP) angewendet. Diese umfasst:
eine Untersuchung der Vasodilatationsfähigkeit über Adenosin und
eine Untersuchung der Vasokonstriktion über Acetylcholin.
Wichtig: Das Testergebnis hängt unter anderem von der Dosis ab. Beispielsweise reichen bei Acetylcholin für Frauen mitunter bereits 100 µg aus, um einen positiven Acetylcholin-Test zu erreichen – während es bei Männern etwa 200 µg sind (laut einer Studie aus 2017).
Prävention als Key-Message vermitteln
Um Herz-Kreislauf-Erkrankungen gar nicht erst aufkommen zu lassen, empfiehlt Seeland, Präventionsmaßnahmen sowohl an Ärztinnen und Ärzte als auch an Patientinnen und Patienten zu vermitteln: Lebensstilfaktoren anpassen, Stress abbauen und Risikofaktoren behandeln.
Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Coliquio.de.
Medscape Nachrichten © 2021 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Geschlechter-Unterschiede bei Koronarerkrankungen – Frauenherzen erkranken anders - Medscape - 5. Mai 2021.
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