Patienten, die nach einer akuten COVID-19-Infektion unter Langzeitsymptomen leiden, erfüllen zunehmend die Kriterien für das chronische Müdigkeitssyndrom (chronic fatigue syndrome, CFS, oder auch myalgische Enzephalomyelitis, ME). Das mache noch einmal die Notwendigkeit vereinheitlichter Forschungsanstrengungen deutlich, so Sprecher der Interessengruppe MEAction bei einer Pressekonferenz. MEAction ist ein internationales Netzwerk von Personen mit „myalgischer Enzephalomyelitis“ und deren Angehörigen.
„Das Aufkommen einer Post-COVID-Erkrankung war absehbar. Vergleichbare Müdigkeitssyndrome finden sich seit beinahe 100 Jahren in der gesamten wissenschaftlichen Literatur, wo sie regelmäßig mit einer Vielzahl von gut dokumentierten Viren-, Bakterien-, Pilz- und sogar Protozoen-Infektionen in Zusammenhang gebracht werden“, sagte Prof. Dr. Anthony Komaroff von der Harvard Medical School in Boston, Massachusetts.
Zu den diagnostischen Hauptkriterien des chronischen Müdigkeitssyndroms, die 2015 vom Institute of Medicine aufgestellt wurden, gehören:
eine erhebliche Beeinträchtigung des Aktivitätsniveaus über mindestens 6 Monate,
die postexertionelle Malaise oder Fatigue (PEM) oder eine Verschlimmerung der Symptomatik nach geringen Anstrengungen (oft als „Absturz“ beschrieben),
nicht erholsamer Schlaf,
kognitive Beeinträchtigungen und/oder
orthostatische Intoleranz.
Die Patienten leiden auch häufig unter Kopf-, Muskel- und/oder Gelenkschmerzen und Allergien sowie anderen Überempfindlichkeiten. Viele Patienten können ihre Symptome mit einer Infektion als Auslöser in Zusammenhang bringen, „doch wenn die Diagnose erst Monate oder Jahre nach dem Auftreten der Symptome gestellt wird, bleibt die eigentliche Ursache unklar“, sagt Dr. Lucinda Bateman, Gründerin des Bateman Horne Centers in Salt Lake City, Utah, die eine Arbeitsgemeinschaft zur Verbesserung des Managements des chronischen Müdigkeitssyndroms leitet.
Müdigkeit und „Hirnnebel“
Bei einer internationalen Umfrage unter 3.762 Long-COVID-Patienten waren mindestens 6 Monate nach Krankheitsbeginn die häufigsten Symptome Müdigkeit (78%), PEM (72%) und kognitive Dysfunktion („Hirnnebel“, 55%). Zum Zeitpunkt der Befragung gaben 45% an, dass sie aufgrund ihrer Krankheit weniger arbeiteten, und 22% berichteten, dass sie überhaupt nicht mehr arbeiten könnten. Die Untersuchung war im vergangenen Dezember als Preprint veröffentlicht worden.
Bateman sagte, dass diese Ergebnisse ihren bisherigen Erfahrungen mit 12 Long-COVID-Patienten entsprächen, die sich selbst an ihre Spezialklinik gewandt hatten. 9 dieser 12 Patienten erfüllten dabei die Kriterien für das posturale orthostatische Tachykardiesyndrom (POTS), basierend auf dem NASA-10-Minuten-Lean-Test, einer Variante des Schellong-Tests. Dabei steht der Patient nicht frei, sondern angelehnt an einer Wand. Die Hälfte erfüllte auch die Fibromyalgie-Kriterien des American College of Rheumatology von 2016.
„Einige waren stark beeinträchtigt. Wir vermuten eine Small-Fiber-Polyneuropathie bei etwa der Hälfte und ein Mastzell-Aktivierungs-Syndrom (MCAS) bei über der Hälfte der Fälle. Wir wollen diesen Dingen unbedingt mit weiteren Tests nachgehen“, sagte Bateman.
Für Komaroff gibt es allerdings auch einige Unterschiede. „Long-COVID-Patienten leiden oft unter Atemnot und anhaltender Anosmie (Verlust von Geschmack und Geruch), was nicht typisch für das chronische Müdigkeitssyndrom ist.“ Aber „viele der Symptome sind recht ähnlich. Ich vermute, dass das chronische Müdigkeitssyndrom das gemeinsame Ende von Verläufen mit unterschiedlichen Ursachen ist“, so Komaroff, der auch Oberarzt am Brigham and Women's Hospital in Boston und Chefredakteur des Harvard Health Letter ist.
Früheren Daten zufolge, nach denen bei vielen Infektionen 10% der Patienten mindestens 1 Jahr danach noch Symptome haben, müsse man bei den bis Ende 2021 erwarteten 200 Millionen weltweiten COVID-Fällen auch mit 20 Millionen Long-COVID-Patienten im nächsten Jahr rechnen, so Komaroff.
„Eine gewaltige Investition“
Die National Institutes of Health haben kürzlich 1,15 Milliarden US-Dollar an Forschungsgeldern für die nächsten 4 Jahre bereitgestellt, um „die heterogenen Genesungsverläufe nach COVID zu untersuchen und Behandlungen für diejenigen zu entwickeln, die an einem Long-COVID-Syndrom leiden“, so das National Institute of Neurological Disorders and Stroke (NINDS) in einem Blog-Eintrag vom 5. Februar 2021. Am gleichen Tag kündigte ein anderer NINDS-Blog „neue Ressourcen für groß angelegte Untersuchungen zum chronischen Müdigkeitssyndrom“ an und wies auf die Verbindung zum Long-COVID-Syndrom hin.
„Das ist eine gewaltige Investition. Ich vermute, dass es verschiedene Krankheiten nach COVID geben wird“, kommentierte Komaroff und fügte hinzu: „Und ich glaube auch, dass sich das Long-COVID-Syndrom als Folge verschiedener zerebraler Anomalien erweisen wird, von denen manche bereits beim chronischen Müdigkeitssyndrom identifiziert wurden. Die Forschung wird diese Fragen hoffentlich klären können.“
Im Jahr 2017 hatte das NINDS eine kräftige Erhöhung der Mittel für die Forschungen zum chronischen Müdigkeitssyndrom angekündigt, so auch die Einrichtung von 4 speziellen Forschungszentren. Im April 2019 veranstaltete die NINDS eine 2-tägige Konferenz, bei der es um diese Arbeiten ging, worüber auch Medscape berichtet hatte.
Dabei erklärte der klinische Leiter des NINDS, Dr. Avindra Nath, dass er seit 2016 an einer laufenden umfassenden Studie zum chronischen Müdigkeitssyndrom im eigenen Haus mitwirke. Er beaufsichtige jetzt auch 2 Long-COVID-Studien, von denen eine einem ähnlichen Aufbau folge wie die Studie zum chronischen Müdigkeitssyndrom und die Personen einschließe, die nach bestätigter COVID immer noch unter Langzeitsymptomen litten. Ziel sei es, etwa 1.300 Patienten zu untersuchen. Mehrere Arbeitsgruppen widmeten sich nun gemeinsam diesen Daten.
„Jeder Aspekt wird jetzt analysiert. Was wir an der einen Stelle herausfinden, gilt auch an der anderen“, sagte Nath.
Ratschläge für Kliniker
Auf Nachfragen von Medscape gaben Bateman und Nath einige klinische Empfehlungen zum Umgang mit Patienten, welche die diagnostischen Kriterien für ein chronisches Müdigkeitssyndrom erfüllen – unabhängig davon, ob eine COVID oder eine andere Infektionskrankheit vorgelegen hat oder nicht oder ob der Auslöser unbekannt war.
Bateman riet dazu, jedes dieser Symptome bei jedem Patienten individuell zu beurteilen. „Neben der Belastungsintoleranz und der PEM ist die orthostatische Intoleranz das am häufigsten übersehene Symptom. Es spielt wirklich keine Rolle, was die Ursache dafür ist. Eine unterstützende Behandlung ist in jedem Fall möglich. Dieser Aspekt der Krankheit kann erhebliche Aktivitätseinschränkungen zur Folge haben. Meine Bitte an die Ärzteschaft ist es daher, immer auf eine orthostatische Intoleranz zu achten und Verständnis für das damit verbundene Aktivitätsniveau und das Vermeiden von PEM-Symptomen zu entwickeln.“
Nath wies auf die oftmals herausfordernde Situation hin, wenn sämtliche Erregertests und andere Blutuntersuchungen negativ ausfallen, der Patient aber trotzdem über mehrere Schwächesymptome klagt. Dies sei vor allem bei Long-COVID-Patienten zu Beginn der Pandemie der Fall gewesen, als noch keine PCR-Tests für SARS-CoV-2 allgemein verfügbar waren.
„Der Arzt kann nur Tests anordnen, die in seinen Labors zur Verfügung stehen. Ich denke, man sollte die Symptome symptomatisch behandeln, aber die Patienten auch zu Spezialisten überweisen oder an Forschungseinrichtungen vermitteln“, sagte Nath.
Bateman fügte noch hinzu: „Ob eine Corona-Infektion dokumentiert ist oder nicht, müssen wir im Jahr 2020 einfach ignorieren. Viel zu viele Menschen hatten keinen Zugang zu einem Test, oder der Zeitpunkt wurde verpasst. Wenn Menschen die Kriterien für ein chronisches Müdigkeitssyndrom erfüllen, ist das irrelevant. Es ist eine vornehmlich klinische Diagnose, die nicht darauf angewiesen ist, einen Erreger nachgewiesen zu haben.“
Komaroff widmet sich seit über 30 Jahren Patienten mit dem damals meist „Fatigue-Syndrom“ genannten chronischen Müdigkeitssyndrom und forscht über die Krankheit. Für ihn stellt das verstärkte Interesse für das postinfektiöse Müdigkeitssyndrom auch einen Silberstreif am Horizont hinter der schrecklichen dunklen Pandemiewolke dar.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Diesen Artikel so zitieren: Long-COVID-Symptome: Überschneidung mit dem chronischen Müdigkeitssyndrom? Studien sollen Aufschluss geben - Medscape - 27. Apr 2021.
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