Der US-amerikanische Schauspieler und Komiker Pete Davidson zeigte sich kürzlich erleichtert, als bei ihm endlich die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPD) gestellt worden war. In der Ärzteschaft löste das wiederum eine Twitter-Diskussion darüber aus, in der es einmal mehr um die Frage ging, ob man einem Patienten die Diagnose BPD mitteilen sollte oder nicht.
„Ich habe von vielen jungen Therapeuten gehört, dass man ihnen gesagt habe, sie sollten einem Patienten niemals eine BPD-Diagnose eröffnen. Ich finde das äußerst anmaßend und auch stigmatisierend“, twitterte Dr. Amy Barnhorst, stellvertretende Vorsitzende der niedergelassenen Psychiater an der University of California in Davis, USA. „Die meisten Patienten fühlen sich im Gegenteil erleichtert und verstanden, wenn ich ihnen die Diagnose erkläre“, fügte sie hinzu.
Eine klinisch-forensische Psychologin bestätigte in einem Tweet Barnhorsts Aussage, wonach gelehrt würde, die Diagnose nicht mitzuteilen. „Ich habe es trotzdem gesagt und die Patientin war erleichtert darüber, dass es einen Namen für das Problem gibt, mit dem sie leben muss.“
Andere widersprachen Barnhorst jedoch und meinten, dass die BPD eine sehr ernste, stigmatisierende und schwierig zu behandelnde Störung sei, die Patienten hoffnungslos machen könne.
Dennoch steht Barnhorst zu ihrer Position. Obwohl „es ein negatives Stigma gegen die Diagnose BPD gibt“, komme dieser Gedanke eher von den Klinikern als von den Patienten selbst, sagte sie.
„Ich hatte noch nie einen Patienten, der sagte: ‚Wie können Sie es wagen, mich als so jemanden zu bezeichnen!‘, als wäre es eine Beleidigung“, sagte sie gegenüber Medscape. Eine Diagnose vorzuenthalten „ist so, als würde man einem Patienten einen vernünftigen und erwachsenen Umgang damit nicht zutrauen“.
„Harte Diagnose“
Die BPD ist zwar eine „harte Diagnose, aber mit einer Krebsdiagnose oder z.B. einer schwerer Lebererkrankung würden wir niemals hinter dem Berg halten, selbst wenn wir wüssten, dass die Patienten es lieber nicht wüssten, aber wir würden dennoch versuchen, sie zu behandeln“, sagte Barnhorst.
Die BPD ist mit einer erheblichen Morbidität verbunden, da sie häufig von weiteren Erkrankungen wie Depression, Substanzmissbrauch und Dysthymie begleitet wird. Bei 70 bis 75% dieser Patienten gibt es in der Vorgeschichte selbstverletzendes Verhalten und nach manchen Schätzungen sterben bis zu 9% der BPD-Kranken durch Suizid.
In einem Artikel aus dem Jahr 2013 in Innovations in Clinical Neuroscience diskutierten Forscher „ethische und klinische Fragen, die Psychiater bei der Behandlung von BPD berücksichtigen sollten“, einschließlich der Frage, ob dem Patienten die Diagnose mitgeteilt werden sollte. Nach einer solchen Diagnose kann ein Patient „stark negativ reagieren und diese Reaktionen können leicht ausgelöst werden“, so die Untersucher.
„Wovor sich Psychiater jedoch vermutlich fürchten, ist wohl die erhöhte Wahrscheinlichkeit für Suizidversuche bei BPD-Patienten“, fügen sie hinzu. Ein Teil des Problems bestehe darin, dass man in der Vergangenheit eine BPD für nicht behandelbar hielt. Sie stellten jedoch fest, dass dies heute nicht mehr zutreffe.
Dennoch hat Dr. Kaz Nelson, Privatdozentin für Psychiatrie und Verhaltenswissenschaften an der University of Minnesota Medical School in Minneapolis, USA, die BPD als eine „Störung mit Fußnoten“ bezeichnet.
In einem kürzlich erschienenen Blog schrieb sie: „Wir sagen allen Patienten, wenn sie die Kriterien für eine medizinische Diagnose erfüllen.* Wir zeigen allen Patienten gegenüber Mitgefühl und urteilen nicht.* Wir diskriminieren keine Patienten.*“ Das Sternchen bei diesen Aussagen stehe dann für die Fußnote: *Ausgenommen für Patienten mit BPD.
Inzwischen gibt es Therapieoption
Seit den 1980er Jahren führt das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) Persönlichkeitsstörungen als Achse-II-Störungen, d.h. sie währen lange, mitunter auch lebenslang und seien, so Nelson, „nicht zu lindern“.
„Es begann damit, dass wohlmeinende Therapeuten, die sich um ihre Patienten sorgten, ein noch größeres Verständnis für die Menschen entwickeln wollten. So begannen sie, nach Mustern zu suchen, die einer optimalen Funktion im Weg stehen können“, erklärte sie gegenüber Medscape.
Die Idee dahinter war, diese Diagnosen nicht offen zu legen, „sondern die damit verbundenen Verhaltensmuster im Laufe der gemeinsamen Therapiearbeit gemeinsam aufzudecken“, fügte Nelson hinzu.
Obwohl es früher so gut wie keine Behandlung für BPD gab, besteht jetzt vor allem durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Hoffnung, bei welcher der Patient über den Einsatz der Achtsamkeit lernt, wie man Emotionen kontrolliert und Beziehungen verbessert.
Laut der National Education Alliance for BPD gehören zu den weiteren nützlichen Behandlungen die mentalisierungsbasierte Therapie, die übertragungsfokussierte Therapie und ein „gutes psychiatrisches Management“. Obwohl es derzeit keine zugelassenen Medikamente für BPD gibt, werden einige Wirkstoffe eingesetzt, um gegen komorbide Zustände wie Depressionen oder Angstzustände vorzugehen.
„Wir wissen jetzt, dass die Betroffenen sich auch erholen können, was das ganze Paradigma auf den Kopf gestellt hat“, sagte Nelson. Zum Beispiel „kategorisieren wir diese Dinge nicht länger in behandelbar oder nicht behandelbar, was ein sehr positiver Schritt war“.
Warum wird also immer noch über die Frage der Offenlegung von Diagnosen diagnostiziert? „Es gibt heute immer noch manche Psychiater und entsprechende Lehrpläne an den medizinischen Fakultäten, nach deren Lehre Persönlichkeitsstörungen dauerhaft, fixiert und therapieresistent sind – und dass es irgendwie abwertend sei, einem Patienten diese Art von Diagnose zu stellen“, sagte Nelson.
Nelson, die auch stellvertretende Lehrbeauftragte an der medizinischen Fakultät in Minnesota ist, sagte: „Wir erkennen dort die schmerzhafte Geschichte der BPD an und auch dass es diese Missverständnisse gibt. Wir kämpfen zudem an vorderster Front gegen die Diskriminierung und die Vorstellung, dass man Reißaus nehmen sollte, wenn man an einen Patienten mit möglicher BPD gerät. Das ist einfach inakzeptabel.“
Sie führte weiter aus, dass die Mitteilung der BPD-Diagnose heute weniger strittig ist als früher. „Aber das Ganze ist immer noch Gegenstand von Diskussionen und die Leitlinien für die BPD sind veraltet und überholt.“
Nach der Veröffentlichung des DSM-V im Jahr 2013 wurden die Kriterien für die BPD nicht mehr aktualisiert, was jetzt nachgeholt werden müsse, fügte sie hinzu. „In der Zwischenzeit wollen wir weiter dafür werben, dass es gut und richtig ist, mit Menschen über ihre Diagnose zu sprechen, Behandlungspläne aufzustellen und damit umzugehen, wie mit jeder anderen Krankheit auch, ob sie nun psychiatrisch ist oder nicht.“
Eine Entwicklung, keine Debatte
Prof. Dr. Paul Appelbaum, ehemaliger Präsident der American Psychiatric Association (APA) und derzeitiger Vorsitzender des DSM-Gremiums, sagte gegenüber Medscape, dass er an keiner aktuellen Debatte zu diesem Thema beteiligt gewesen sei.
„Ich denke, allgemeine Praxis ist heute, mit Patienten offen über ihre Diagnosen zu sprechen. Die Patienten wissen das zu schätzen und die Psychiater haben die Vorteile darin erkannt“, sagte Appelbaum, der auch als Professor am Vagelos College of Physicians and Surgeons der Columbia University in New York City tätig ist.
Die Patienten hätten auch zunehmend Zugang zu ihren Krankenakten, „sodass es vielfach gar nicht mehr möglich ist, eine Diagnose zurückzuhalten“.
„Ich glaube nicht, dass es eine echte Debatte ist – ich halte es eher für eine Entwicklung“, sagte er. „Vielleicht ist noch nicht jeder ganz an Bord, aber es hat eine große Veränderung in der psychiatrischen Praxis gegeben.“
Auf die Frage, ob es eine Art von Leitlinien-Update oder eine Erklärung der APA zur BPD geben müsse, sagte Appelbaum, er glaube nicht, dass es sich um ein spezielles Problem der BPD handle, sondern dass es alle psychiatrischen Diagnosen betreffe.
„Bei den Ärzten, die heute noch ihren Studierenden und Assistenten mit auf den Weg geben, dass sie die Diagnose nicht offenlegen sollen, würde ich vermuten, dass sie vor sehr langer Zeit ausgebildet wurden und sich noch nicht an die veränderte Welt angepasst haben“, sagte er.
„Ich möchte nicht für die APA sprechen, aber für mich selbst kann ich sagen: Ich ermutige die Assistenzärzte, die ich unterrichte, auf jeden Fall dazu, ihre Diagnosen den Patienten offenzulegen. Es ist nicht nur in manchen Fällen klinisch hilfreich, sondern auch ethisch erforderlich, dass man den Patienten ermöglicht, angemessene Entscheidungen über ihre Behandlung zu treffen. Und es ist wohl auch aus rechtlich Gründen hinsichtlich der Verpflichtung zu einer informierten Einwilligung notwendig“, sagte Appelbaum.
Bezüglich der Aktualisierungen des DSM merkte er an, dass das Gremium „die Entwicklung verfolgt, um Ergänzungen oder Änderungen im DSM vorzuschlagen, die durch Daten, die seit der Veröffentlichung des DSM-5 erhoben wurden, gerechtfertigt sind.“ Auf der Website des DSM ließen sich Vorschläge zur Prüfung einreichen.
Darüber hinaus sagte Appelbaum, dass es Diskussionen über die Verwendung eines neuen Modells gibt, „das sich mehr auf die Dimensionen konzentriert und weniger auf scharfe Kategorien“, um Persönlichkeitsstörungen zu klassifizieren.
„Es werden Vorschläge formuliert, die man uns vorlegen wird“, fügte er hinzu. „Daran wird gerade gearbeitet und diskutiert und Änderungen hätten eindeutig Auswirkungen auf die BPD und auch auf alle anderen Persönlichkeitsstörungen.“
Die APA erklärte dazu gegenüber Medscape schriftlich, dass die Leitlinien zur BPD gegenwärtig überprüft würden und es derzeit keine Stellungnahme und kein Positionspapier zur BPD für Ärzte gebe. Die letzte Aktualisierung der Leitlinien stammt aus den frühen Nullerjahren.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Diesen Artikel so zitieren: US-Ärzte diskutieren auf Twitter, ob man Borderline-Patienten ihre Diagnose mitteilen sollte - Medscape - 23. Apr 2021.
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