POTS tritt aus dem Schattendasein: Offenbar kann die bisher wenig beachtete Störung auch ein Long-COVID-Symptom sein

Tricia Ward

Interessenkonflikte

23. April 2021

Vor COVID gehörte das Posturale Orthostatische Tachykardie-Syndrom (POTS) zu jenen Krankheiten, die von vielen Menschen und nicht zuletzt auch von Ärzten nicht ernst genommen wurden. „Viele dachten, es handele sich bei den Betroffenen hauptsächlich um ängstliche oder gar ‚hysterische‘ junge Frauen“, sagte Dr. Pam R. Taub, Leiterin des kardialen Rehaprogramms an der University of California in San Diego. Nun bestätigen Fallberichte, dass es sich beim POTS auch um ein Symptom im Rahmen eines Long-COVID-Syndroms bzw. einer postakuten Manifestation einer SARS-CoV-2-Infektion (PASC, post-acute sequelae of COVID-19) handeln kann.

POTS tritt auch nach Infektionen auf

Kennzeichen von POTS ist ein Pulsanstieg innerhalb von 10 min nach dem Hinstellen Vergleich zum Niveau im Liegen (mindestens 30/min ≥ 19 Jahre, mindestens 40/min 12–19 Jahre). Typische Symptome sind bzw. nehmen in aufrechter Position zu:

  • Schwankschwindel

  • Herzklopfen

  • Schwächegefühl

  • Verschwommensehen

  • Belastungsintoleranz

  • Abgeschlagenheit, Fatigue

  • Benommenheit

Schätzungsweise 1 bis 3 Millionen US-Bürger galten vor der Pandemie als an dieser rätselhaften autonomen Störung leidend. Für Deutschland geht man von 160.000 Erkrankten aus. Auch bei uns handelt es sich meist um junge Frauen.

„Ich freue mich, dass dieser Zustand, der meist in der Kardiologie und auch in der Neurologie recht stiefmütterlich behandelt worden war, jetzt etwas Aufmerksamkeit erhält“, sagt Taub. Sie hofft, dass das Engagement der National Institutes of Health (NIH) in der Long-COVID-Forschung auch den an dieser kardiovaskulären Autonomiestörung leidenden Patienten zugutekommen wird, die unter der normotonen orthostatischen Intoleranz leiden.

Das postinfektiöse Auftreten des POTS hat SARS-CoV-2 jedoch nicht für sich gepachtet. Es wurde z.B. auch nach einer Borreliose und nach Epstein-Barr-Virus-Infektionen beobachtet. Eine Theorie dazu besagt, dass einige der Antikörper, die gegen das Virus gebildet werden, kreuzreagieren und die Teile des autonomen Nervensystems schädigen, welche die Herzfrequenz und den Blutdruck regulieren, so Taub.

 
Ich freue mich, dass dieser Zustand, der meist in der Kardiologie und auch in der Neurologie recht stiefmütterlich behandelt worden war, jetzt etwas Aufmerksamkeit erhält. Dr. Pam R. Taub
 

Es ist unklar, ob die Wahrscheinlichkeit für ein POTS bei COVID-19 größer ist als bei anderen Infektionen oder ob der Anstieg der POTS-Diagnosen lediglich die Tatsache widerspiegelt, dass sich weltweit über 115 Millionen Menschen mit dem neuartigen Coronavirus infiziert haben.

Ein geringes Blutvolumen, Regulationsstörungen im autonomen Nervensystem und autoimmunologische Vorgänge können allesamt eine Rolle bei der POTS-Entwicklung spielen, was auch der Vorstellung unterschiedlicher Subtypen Nahrung verleiht. So äußert sich das NIH, das National Heart, Lung, and Blood Institute und das National Institute of Neurological Disorders and Stroke in einem Artikel zum Stand der Wissenschaft bei diesem Thema.

Nach Taubs Erfahrung haben „die Patienten tatsächlich eine Mischung aus den Subtypen“. Dr. Kamal Shouman, Neurologe an der Mayo Clinic in Rochester, Minnesota, sagte gegenüber Medscape, dass er bei Patienten mit POTS im Rahmen eines Long-COVID-Syndroms sämtliche Formen gesehen habe und nicht nur das „klassische neuropathische postinfektiöse POTS“.

Warum trifft es vor allem sportliche Frauen?

Das Syndrom, das die Folge einer Dehydrierung oder auch einer längeren Bettlägerigkeit sein kann und zum Konditionsabbau führt, betrifft überproportional oft Frauen.

Wenn ihm auf Visiten ein POTS-Patient vorgestellt wird, bei dem es sich nicht um eine junge Frau handelt, fragt Dr. Manesh Patel gerne noch einmal genau die Gründe für die Diagnose ab. Patel ist Leiter der Kardiologie an der Duke University School of Medicine in Durham, USA, und hat eine Theorie dafür, warum so viele POTS-Patienten Sportlerinnen oder zumindest sehr aktive Frauen sind. Er hält eine zugrunde liegende Veranlagung für wahrscheinlich, die durch ein geringeres Körpervolumen verstärkt wird, was weniger Spielraum für Fehler lässt. „Wenn sie einen halben Liter Flüssigkeit und Volumen verlieren, bedeutet das für sie einen größeren Unterschied als etwa für einen 150-Kilo-Offensivspieler im Football“, so Patel.

Diese Hypothese ergibt auch für Taub Sinn, die meint: „Manche Menschen sind aus metabolischer Sicht eher hyperadrenerg und all ihre Aktivitäten helfen vielleicht wirklich dabei, den sympathischen Output zu dämpfen.“ Eine Infektion störe jedoch diese regulatorischen Prozesse und eine Konditionsrückgang noch etwas mehr.

Frauen litten auch häufiger unter Autoimmunerkrankungen als Männer. Die treibende Kraft hinter der vegetativen Funktionsstörung sei „vermutlich immunvermittelt. Wir denken, dass der Auslöser eine Reaktion auf ein Virus ist“, sagte sie.

Shouman meinte, dass eine zugrunde liegende Anfälligkeit für die orthostatische Intoleranz prädisponieren könne. Er höre mitunter von Patienten, dass sie in der Vergangenheit zu Ohnmachten neigten. Für ihn gehöre POTS nicht exklusiv den Frauen. Er sehe auch Männer mit POTS. Einer der jüngsten Fallberichte zu POTS nach COVID betraf einen 37-jährigen Mann. Bislang waren Patels männliche POTS-Patienten dekonditionierte Sportler.

Kipptest und Behandlungsmöglichkeiten

Das POTS wird durch den Kipptest und über den transkraniellen Doppler diagnostiziert. Taub beschrieb ihren eigenen „Kipptest des kleinen Mannes“, bei dem sie ihre Patienten bittet, sich für 5 bis 10 Minuten hinzulegen und dann aufzustehen.

Der transkranielle Doppler hilft ihr dabei, die Benommenheits- und Leeregefühle im Kopf der Patienten greifbar zu machen, und befreit die Patienten von dem mitunter geäußerten Verdacht des Simulantentums. „Mit einer um 40 bis 50% verminderten Hirndurchblutung kann niemand klar denken“, sagt sie.

Shouman sprach noch von den wichtigen therapeutischen Maßnahmen bei POTS-Patienten: allgemeine Volumengabe mit Kochsalzlösung, Kompressionskleidung und ein abgestuftes Trainingsprogramm. Er schneide die Behandlungen gerne auf die wahrscheinlichste Ursache zu. Die Patienten sollten sich jedoch zunächst einer internistischen Beurteilung unterziehen, um primäre Lungen- oder Herzprobleme als Ursache auszuschließen.

„Sobald eine autonome Ursache als gesichert gilt und die POTS-Diagnose gestellt wurde, sollte man, denke ich, die Art des POTS bestimmen“, sagte Shouman weiter. Beim hyperadrenergen POTS „haben Sie es mit einem Noradrenalinspiegel von beständig über 600 pg/ml zu tun“. In diesen Fällen könnten Medikamente wie Ivabradin oder Betablocker helfen.

 
Mit einer um 40 bis 50% verminderten Hirndurchblutung kann niemand klar denken. Dr. Pam R. Taub
 

Taub führte kürzlich eine kleine Studie durch, die einen Nutzen des selektiven If-Kanal-Hemmers Ivabradin bei Patienten mit hyperadrenergem POTS ohne Zusammenhang mit COVID aufzeigte. Sie selbst gebe eher Ivabradin den Vorzug vor Betablockern, weil es die Herzfrequenz aber nicht den Blutdruck senke. Zudem könnten Betablocker die Müdigkeit und Benommenheitsgefühle verschlimmern.

In einer kleinen Crossover-Studie werden Propranolol und Ivabradin bei POTS miteinander verglichen. Für jemanden, der sehr hypovolämisch ist, „könnte man Salztabletten oder ein verschreibungspflichtiges Medikament wie Fludrocortison versuchen“, erklärte Taub.

Ein weiteres Problem bei POTS-Patienten ist ihre Unfähigkeit, aufgrund der orthostatischen Intoleranz Sport zu treiben. Bewegungen im Liegen richten sich gegen die Dekonditionierung und können den hyperadrenergen Effekt lindern. Shoumans Ansatz ist es dabei, schrittweise mit Schwimmen, einem Liegerad oder dem Training an einem Rudergerät zu beginnen.

Taub empfiehlt den Patienten, Fitnessarmbänder o.ä. zu tragen, weil es sich beim POTS „um einen sehr dynamischen Zustand“ handele, der leicht über- oder unterdosiert werden könne. An guten Tagen mit gutem Hydrierungszustand und einem Puls im Stehen von nur 80 empfiehlt sie, z.B. die 2. Ivabradin-Dosis allmählich herunterzutitrieren. Die Rückmeldungen der Pulsuhr helfen dann auch dabei, das Trainingsverhalten zu steuern.

Für Shouman sind Fitnessarmbänder nicht genau genug. Er sage seinen Patienten, dass es in Ordnung sei, sie zu benutzen, solange sie nicht andauernd darauf schauten und ihre Angst dadurch zunehme.

POTS-Patienten hoffen auf Long-COVID-Forschung

Könnte es angesichts der wachsenden Aufmerksamkeit, die das Long-COVID-Syndrom erhält, geschehen, dass das POTS unter den zahlreichen PASC-Symptomen wieder in Vergessenheit gerät?

Shouman warnte: „Nicht jeder Long-COVID-Fall ist mit einem POTS verbunden.“ Die mit Long-COVID befassten Ärzte in den Kliniken sollten in der Lage sein, die verschiedenen Zustände zu erkennen, „wenn der Verdacht auf ein POTS besteht. Hier wäre es dann sinnvoll, die Patienten an eine Fachabteilung zur Evaluation des autonomen Nervensystems zu überweisen. “

 
Ganz gleich, an welchem Ende des Spektrums man sich befindet, gibt es Dinge, die wir tun können, um die Beschwerden zu lindern. Dr. Pam R. Taub
 

Er habe mit seinem Team an der Mayo-Klinik eine ganze Reihe von Patienten gesehen, die nach COVID nicht nur POTS, sondern auch eine autonome Dysfunktion, wie z.B. vasodepressive Synkopen, aufwiesen. Hier sei auch in Kürze die Veröffentlichung einer Arbeit zu erwarten.

„Von allen kardiologischen Themen, mit denen ich mich befasse, ist dieses das komplexeste, weil so viele verschiedene Systeme involviert sind“, sagt Taub, die Patienten gesehen hat, die sich wieder vollständig von einem POTS erholt haben. „Es gibt die ganze Bandbreite – von leichten bis schweren Verläufen und manche Patienten befinden sich definitiv am schlechteren Ende.“

Für sie ist die entscheidende Botschaft: „Ganz gleich, an welchem Ende des Spektrums man sich befindet, gibt es Dinge, die wir tun können, um die Beschwerden zu lindern. Und mit der Erforschung der Long-COVID-Symptomatik kommen wir vielleicht auch dem Verständnis der Pathomechanismen näher, um daraus bessere Behandlungen zu entwickeln“, sagte sie.

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus https://www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
 

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