Starke Kopfschmerzen in der Schläfengegend, Schmerzen beim Kauen, Parästhesien der Kopfhaut und Sehstörungen lassen an eine Riesenzellarteriitis (RZA) denken. Bei den Über-50-Jährigen ist sie die häufigste systemische Vaskulitis. Wichtig sind rasche Diagnostik und Therapie – dabei soll die interdisziplinäre S2k-Leitlinie „Management der Großgefäßvaskulitiden“ helfen. Prof. Dr. Bernhard Hellmich, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin, Rheumatologie und Immunologie der medius Klinik Kirchheim und einer der beiden Koordinatoren des Vaskulitiszentrums Süd, hat sie auf dem Online-Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) vorgestellt [1].
In Deutschland liegt die Inzidenz der RZA bei den Über-50-Jährigen bei 3,5 auf 100.000; überwiegend leiden Frauen daran. Bei 40% der Patienten tritt begleitend eine Polymyalgia rheumatica (PMR) auf. Eine gefürchtete Komplikation ist der Sehverlust. Um Spätfolgen wie Erblindung oder Schlaganfall zu verhindern, ist eine rasche Diagnose notwendig. In der Regel dauert es aber fast 2 Monate, bis eine RZA korrekt diagnostiziert wird. Dies soll sich mit der Leitlinie nun ändern.
Rasche Therapie ist entscheidend, um Erblindung zu verhindern
Ein Patient mit Verdacht auf eine RZA muss umgehend einem Team vorgestellt werden, das auf die interdisziplinäre Diagnostik und Therapie von Großgefäß-Vaskulitiden spezialisiert ist. Fast-Track-Sprechstunden in großen Zentren ermöglichen die Vorstellung des Patienten innerhalb von 24 Stunden.
Wie schnell die Diagnose gestellt und mit einer Glukokortikoid-Therapie begonnen werden kann, entscheidet darüber, ob es gelingt, bei Patienten mit Augenbeteiligung eine Erblindung zu verhindern. 20% der RZA-Patienten erleiden einen Sehverlust.
Zur Basisdiagnostik gehören neben der gezielten Anamnese eine gründliche klinische Untersuchung der arteriellen Gefäße und die Bestimmung von CRP und BSG. Bei entsprechenden Symptomen sollte sofort eine Hochdosis-Glukokortikoid-Therapie (40 bis 60 mg) starten. Die Diagnostik mittels Ultraschall der Gefäße, MRT oder PET-CT sollte unmittelbar darauf folgen, denn die diagnostischen Verfahren verlieren schon innerhalb weniger Tage deutlich an Sensitivität, erklärte Hellmich.
Sind bildgebende Verfahren nicht möglich, kommt alternativ eine Biopsie der Temporalarterie infrage. „Den Patienten allein basierend auf einem klinischen Verdacht über Tage und Wochen zu behandeln und keine Diagnostik zu anzustreben, ist falsch. Früher hat man das so gemacht, heute gilt das als Kunstfehler und sollte nicht mehr passieren“, betonte Hellmich.
Ein normales CRP und eine unauffällige BSG schließen bei normaler Klinik eine RZA übrigens nicht zu 100% aus: 2% bis maximal 3% aller Patienten mit RZA weisen anfangs eine normale BSG und CRP auf, berichtete Hellmich. „In solchen Fällen ist es besonders wichtig, die Diagnose umgehend mit einem anderen Verfahren zu sichern.“
Bestätigt sich diagnostisch der RZA-Verdacht nicht, sollte die Steroidtherapie rasch beendet werden. „Wir sehen immer wieder Patienten, die über Wochen und Monate ungerechtfertigt und nur Symptom-getriggert behandelt werden, das führt zu vielen Problemen.“
Hochdosierte Glukokortikoid-Pulstherapie bei akutem Visusverlust
Bei Erstdiagnose einer RZA ohne Sehstörungen soll eine hochdosierte Glukokortikoid-Therapie begonnen werden (40 bis 60 mg Prednisolon-Äquivalent täglich). Ist eine Remission erreicht, sollte die Dosis schrittweise reduziert werden: bei der RZA auf 10 bis 15 mg nach 3 Monaten. Nach 1 Jahr sollte eine weitere Dosisreduktion auf ≤ 5 mg unter klinischer und laborchemischer Kontrolle erfolgen. Ziel ist die individuell niedrigste effektive Glukokortikoid-Dosis. Hält die Remission 1 Jahr an, kann mit dem Ausschleichen begonnen werden.
Kommt es zu einem akutem Visusverlust oder einer Amaurosis fugax, sollte sofort eine hochdosierte Glukokortikoid-Pulstherapie mit 500 bis 1.000 mg Methylprednisolon intravenös über 3 bis 5 Tage erfolgen. In kleinen retrospektiven Studien habe das vereinzelt zu einer Verbesserung des Visus geführt, berichtete Hellmich.
„Wichtiger als die Höhe der Dosis ist aber der Zeitpunkt des Therapiebeginns: Wird mehr als 24 Stunden mit der Therapie gewartet, kann das Augenlicht in der Regel nicht gerettet werden.“ Bei Patienten ohne Augenbeteiligung bringt die Pulstherapie hingegen keinen Vorteil.
Ist Tocilizumab auch eine längerfristig eine Option?
Bei Patienten mit refraktärer oder rezidivierender Erkrankung, bei Patienten mit Glukokortikoid-assoziierten Folgeschäden und bei Patienten mit Diabetes oder Osteoporose sollte eine Glukokortikoid-sparende Therapie erfolgen. Die Datenlage ist für Tocilizumab (TCZ) am besten, alternativ kann Methotrexat (MTX) eingesetzt werden. Ein erhöhtes Risiko für ein Rezidiv weisen vor allem weibliche Patienten auf, Patienten mit PMR-Symptomen und Patienten mit Kau-Claudicatio.
Unter einer kombinierten TCZ- und Steroidtherapie sollten die Glukokortikoide schneller reduziert werden als unter einer Glukokortikoid-Monotherapie; die Steroiddosis sollte nach einem halben Jahr bei 0 liegen. Auch unter kombinierter MTX- und Steroidtherapie sollte eine raschere Steroid-Reduktion angestrebt werden. Hält die Remission an, kommt eine De-Eskalation oder eine Beendigung der Therapie in Betracht.
Es hat sich allerdings gezeigt, dass bei Beendigung der Therapie mit Tocilizumab nach einem Jahr etwa die Hälfte (47%) der Patienten ein Rezidiv bekommt. Unter TCZ-Therapie geht im PET-CT die Aktivität linear zurück geht (p<0,01). Wiederholte PET-Scans nach Absetzen von Tocilizumab zeigen bei 5 von 6 Patienten aber eine Verschlechterung der PET-Aktivität.
Sollte die TCZ-Therapie deshalb fortgesetzt werden? Auch wenn die Datenlage nicht gut ist: Die Ergebnisse einer kleinen Kohortenstudie und einer kleinen Fallserie weisen darauf hin, dass unter TCZ bei den meisten Patienten die Remission gehalten werden kann. „Vereinzelt treten Infektionen bei diesen Patienten auf – man muss also abwägen zwischen Infektions-Komplikation und einem erneuten Rezidiv“, sagte Hellmich.
Sind Hemmer der Januskinasen (JAK) im Off-Label-Use eine Alternative, wenn MTX und TCZ aufgrund von Nebenwirkungen nicht gegeben werden können? Hellmich rät davon ab: „Dazu gibt es derzeit noch keine Daten. Es laufen aber Studien dazu, auch in Deutschland. Ein RZA-Patient, für den Methotrexat und Tocilizumab nicht infrage kommt, könnte in eine Studie mit JAK-Hemmern aufgenommen werden.“
Im Einzelfall komme auch eine Therapie mit Leflunomid in Betracht. Und bei sehr schwer betroffenen Patienten mit hoher Glukokortikoid-Last könne ein Versuch mit Cyclophosphamid gestartet werden. Allerdings gibt es für beide Mittel für die RZA nur eine geringe Evidenz. Eine Alternative könnte das Biologikum Abatacept sein, das derzeit in einer kleinen Studie untersucht wird.
Rezidive sollten wie eine Neuerkrankung behandelt werden. Bei einem nur leichten Rezidiv sollte die Glukokortikoid-Dosis auf mindestens die letzte wirksame Dosis erhöht werden. ASS, Antikoagulanzien oder Statine sollten allerdings nicht mehr routinemäßig zur Behandlung von Großgefäß-Vaskulitiden eingesetzt werden – es sei denn, es liegt eine Indikation dazu vor.
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Diesen Artikel so zitieren: Neue S2k-Leitlinie Großgefäß-Vaskulitiden: Verdacht auf Riesenzellarteriitis rasch abklären, um Erblindung zu verhindern! - Medscape - 22. Apr 2021.
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