NSTE-ACS: Die neuen ESC-Leitlinien präzisieren, wann Antithrombose und Antikoagulation nötig und wann eher riskant sind

Dr. Jürgen Sartorius

Interessenkonflikte

22. April 2021

Eine eigens bestellte Task Force der European Society of Cardiology (ESC) hat die Leitlinien für das Management von Patienten mit akutem Koronarsyndrom ohne persistente ST-Segment-Hebung (NSTE-ACS) aktualisiert, darunter auch die antithrombotische Therapie. Prof. Dr. Dirk Sibbing, Privatklinik Lauterbacher Mühle am Ostersee und Ludwig-Maximilians-Universität München, stellte die aktualisierten Leitlinien auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) vor. Er ist Mitglied der 24-köpfigen Task Force der ESC, deren Vorschläge von 97 internationalen Experten einem Review unterzogen wurden.

Bei seinem Vortrag legte Sibbing seinen Fokus auf 3 Themen, über die er Neuigkeiten berichtete:

  • die Vorbehandlung mit Plättchenhemmern, die einer eventuellen perkutanen Koronarintervention vorausgeht,

  • die Auswahl der P2Y12-Rezeptor-Inhibitoren zur Thrombozytenfunktionshemmung und

  • die Abwägung zwischen einer dualen oder Triple-Therapie mit 2 Plättchenhemmern und einem Antikoagulans.

Vorbehandlung

Eine Vorbehandlung mit den potenten Plättchenhemmern Prasugrel und Ticagrelor bringe nach der aktuellen Datenlage keinen signifikanten Benefit für die Reduktion ischämischer Ereignisse, aber es werden deutlich mehr Blutungen provoziert, berichtete Sibbing. Die Daten für diese Wirkstoffe seien diesbezüglich kongruent. Somit empfiehlt die Leitlinie nur dann ein Pretreatment mit einem P2Y12-Rezeptor-Inhibitor als Option, wenn bei Patienten mit NSTE-ACS keine zeitnahe invasive Strategie geplant ist und sie kein erhöhtes Blutungsrisiko aufweisen (mittlere Evidenz: Klasse IIb, Level C).

Prof. Dr. Dirk Sibbing

Mit hoher Evidenz (Klasse III, Level A) spricht sich die Leitlinie gegen eine routinemäßige Verwendung von P2Y12-Rezeptor-Inhibitoren als Vorbehandlung und somit bei unbekannter Koronaranatomie aus.

Da Prasugrel und Ticagrelor sehr schnell wirken, erläuterte Sibbing weiter, sei es somit absolut praktikabel, diese erst nach einer Koronarangiografie, abhängig von Befund und Zustand der Patienten, vor einer perkutanen Intervention einzusetzen. Sind Patienten dagegen vorbehandelt, sehen Herzchirurgen meist von einem zeitnahen Eingriff ab. Mit dem Warten auf eine Unwirksamkeit der Plättchenhemmung gehe somit wertvolle Zeit verloren.

„Basierend auf der Summe der Studiendaten sollte eine Vorbehandlung von NSTE-ACS Patienten nicht mehr die Routine, sondern die Ausnahme in der zeitgemäßen Therapie darstellen“, so Sibbing. „Die Diskussionen zu einem möglichen Nutzen eines Pretreatments begannen 2002 mit der CREDO-Studie und können jetzt für NSTE-ACS Patienten mit der Verfügbarkeit schnell wirksamer und potenter Plättchenhemmer beendet werden, weil dadurch ein routinemäßiges Pretreatment schlichtweg überflüssig wird.“

 
Basierend auf der Summe der Studiendaten sollte eine Vorbehandlung von NSTE-ACS Patienten nicht mehr die Routine, sondern die Ausnahme in der zeitgemäßen Therapie darstellen. Prof. Dr. Dirk Sibbing
 

Auswahl der P2Y12-Rezeptor-Inhibitoren

Zur Auswahl des geeigneten P2Y12-Rezeptor-Inhibitors bei Patienten, die eine perkutane Koronarintervention (PCI) erhalten sollen, empfiehlt die Leitlinie jetzt die Präferenz von Prasugrel gegenüber Ticagrelor aufgrund der ISAR-REACT-Studie mit 4.018 Fällen von ACS mit geplanter PCI. Im Verlauf von 12 Monaten traten ischämische Ereignisse im Prasugrel-Arm gegenüber der Ticagrelor-Gruppe deutlich seltener auf (Hazard Ratio 1,36; p=0,006), wohingegen das Blutungsrisiko vergleichbar war. Daraus ergab sich eine für diese Empfehlung mittlere Evidenz (Klasse IIa, Level B), erklärte Sibbing.

Grundsätzlich habe der Plättchenhemmer Prasugrel die Eigenschaft einer irreversiblen Plättchenhemmung, was in puncto „temporäre Non-Compliance“ ein Vorteil sein kann, ergänzte Sibbing. Bei entsprechender Verfügbarkeit und Fehlen von Kontraindikation sollte Prasugrel erste Wahl bei allen PCI-Patienten sein.

Ferner ergibt sich bei älteren Patienten auch die Option, bei Bedarf auf die reduzierte Dosierung von 5 statt 10 mg täglich zurückgreifen.

Abwägung zwischen einer dualen oder Triple-Antikoagulation

Als 3. neuen Punkt stellte er die Abwägung zwischen einer dualen oder Triple-Therapie mit 2 Plättchenhemmern und einem Antikoagulans vor. Dazu flossen die Ergebnisse aus Studien zu den direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) Rivaroxaban, Dabigatran, Apixaban und Edoxaban mit insgesamt über 10.000 Patienten in die Leitlinie ein. Insgesamt traten in diesem Kollektiv 1.715 klinisch relevante Blutungsgeschehen auf. Davon zeigten sich in den Armen mit dualer Therapie 34% weniger als unter den Triple-Therapien.

Auch ischämische Ereignisse waren mit 859 Fällen im Kollektiv häufig genug für eine aussagekräftige Statistik. Hier war das Risiko bei einer dualen oder Triple-Therapie gleich verteilt. Darum hat die Arbeitsgruppe entschieden, Patienten mit NSTE-ACS und einer PCI nur in der 1. Woche Triple-Therapie, aber zur Entlassung im 1. Jahr eine duale Therapie mit einem DOAK und einem singulären Plättchenhemmer zu empfehlen (hohe Evidenz: Klasse I, Level A).

Allerdings lässt die Leitlinie hier auch eine Individualisierung zu: Bei erhöhtem Blutungsrisiko sollte der Plättchenhemmer nach 6 Monaten abgesetzt und die Therapie nur noch mit einem DOAK weitergeführt werden. Bei erhöhtem Ischämie-Risiko sollte dagegen die Triple-Therapie noch einen Monat nach Entlassung weitergeführt und erst dann durch eine duale Therapie ersetzt werden.

In diesen Studien war jeweils Acetylsalicylsäure (ASS) der 2. Plättchenhemmer in den Triple-Armen, der in den jeweiligen Armen der dualen Therapie weggelassen wurde. Deshalb standen der Task Force keine entsprechenden Daten mit ASS als einzigem Plättchenhemmer zu Verfügung. „Nach derzeitigem Kenntnisstand sollte auch eine duale Therapie mit ASS und einem DOAK wirksam sein“, ergänzte Sibbing, „etwa bei einer Clopidogrel-Unverträglichkeit.“

„Der ESC Task Force war es wichtig, klare und pragmatische Empfehlungen zu geben, ohne dabei die Möglichkeiten für eine individualisierte Therapie aus den Augen zu verlieren“, stellte Sibbling abschließend fest. „Das beste Beispiel dafür sind die Optionen bei dualer vs. Triple-Therapie.“ 

 
Der ESC Task Force war es wichtig, klare und pragmatische Empfehlungen zu geben, ohne dabei die Möglichkeiten für eine individualisierte Therapie aus den Augen zu verlieren. Prof. Dr. Dirk Sibbing
 

 

Kommentar

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