Im Alter von 80 Jahren haben Männer in Deutschland eine durchschnittliche Lebenserwartung von weiteren 8 Jahren, bei Frauen sind es 9,5 Jahre. Das ist per se erfreulich, wirft aber für die Medizin auch Fragen auf – etwa in der interventionellen Kardiologie, wie PD Dr. Barbara E. Stähli, interventionelle Kardiologin am UniversitätsSpital Zürich, Schweiz, bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie zu bedenken gab [1].
Denn auch fast jeder 3. Mann und fast jede 6. Frau über 80 leidet an einer koronare Herzkrankheit (KHK). Vor diesem Hintergrund erörterte die Expertin, ob eine perkutane Koronarintervention (PCI) bei Patienten ab 80 Jahren noch sinnvoll und aussichtsreich ist.
Wenig Studien zur PCI bei „Octogenarians“
Während es in der täglichen Praxis durchaus „Octogenarians“ mit erfolgreich durchgeführter PCI gibt – sie präsentierte hierzu eine eigene Kasuistik – sei die Evidenz aus klinischen Studien eher dünn, räumte sie ein. Denn meist sind Hochbetagte von vornherein aus den Studien ausgeschlossen.
Stähli verwies darauf, dass über 80-jährige KHK-Patienten eine äußerst heterogene und komplexe Patientengruppe darstellen, sowohl hinsichtlich Komorbidität als auch hinsichtlich Gebrechlichkeit (Vulnerabilität, „Frailty“) bzw. Kognition sowie im Hinblick auf ihre Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL).
Sie stellte 3 Studien mit jeweils mehreren hundert PCI-Patienten über 80 Jahre vor, an denen sie selbst beteiligt war. Diese haben gezeigt, dass die hochbetagten Patienten nach der PCI im Schnitt immer dann ein signifikant besseres Outcome hatten, wenn:
sie sich im Alltag selbst versorgen konnten (Barthel-Index von 100; jeder 2. Patient erfüllte dieses Kriterium);
sie einen Body-Mass-Index (BMI) in den oberen beiden Tertilen hatten (2/3 der Patienten hatten einen BMI ≥ 24,1 kg/m²) und
sie zum Zeitpunkt der PCI nicht noch zusätzlich an einer Pneumonie litten (87% der Patienten hatten keine Lungenentzündung).
PCI bei Hochbetagten mit chronischem Koronarsyndrom
Stähli unterschied dabei die betagten PCI-Patienten in solche mit chronischem Koronarsyndrom (CCS) oder akutem Koronarsyndrom (ACS) – mit den entsprechenden Studien. Zum Thema CCS konnte sie sich ausschließlich auf die „schon 20 Jahre alte“ TIME-Studie berufen: Hier wurden 305 symptomatische CCS-Patienten über 75 Jahre in 2 Gruppen randomisiert, einen PCI-Arm und einen Gruppe mit optimaler medikamentöser Therapie (OMT).
Das Ergebnis: Patienten mit PCI hatten im Vergleich zu jenen, die ausschließlich Medikamente erhalten hatten, ein hochsignifikant verringertes Risiko, den primären Endpunkt zu erleiden, berichtete Stähli. Dieser als „major cardiac adverse events“ (MACE) bezeichnete Endpunkt setzte sich zusammen aus Tod, nicht-fatalem Myokardinfarkt und Hospitalisierung wegen eines ACS mit oder ohne Revaskularisierung.
Zu den sekundären Endpunkten gehörten Schmerzsymptomatik und Lebensqualität; sie waren in der interventionellen Gruppe ebenfalls deutlich verbessert.
PCI bei Hochbetagten mit akutem Koronarsyndrom
Hochbetagte Patienten mit akutem Koronarsyndrom (ACS) stellen eine besondere Herausforderung dar, so Stähli: „Bei ihnen haben wir es oftmals mit einer eher atypischen Präsentation des ACS zu tun, etwa mit kaltem Schweiß, Übelkeit und Erbrechen. Ein beachtlicher Teil – etwa 30% – der über 80-jährigen ACS-Patienten beschreibt keine Thoraxschmerzen“, sagte sie.
Dies sei mit Verzögerungen in Diagnostik und Therapie, mit einer eher konservativ-medikamentösen Therapie und mit einer im Vergleich zu jüngeren Patienten erhöhten Morbidität und Mortalität verbunden, erklärte Stähli und verwies dazu auf 2 Studien aus dem Jahr 2017.
In der After Eighty Study wurden 457 Patienten von mindestens 80 Jahren mit Nicht-ST-Hebungs-Infarkt (NSTEMI) oder instabiler Angina pectoris auf Behandlung mittels Koronarintervention (meist PCI, in wenigen Fällen Bypass) versus OMT randomisiert. Die hochbetagten Patienten schnitten bei invasiver Behandlung ihres ACS besser ab als bei konservativer, rein medikamentöser Therapie. Der primäre Endpunkt umfasste erneuten Herzinfarkt, notfallmäßige Revaskularisation, nicht-tödlichen Schlagfanfall und Tod; er trat bei den invasiv behandelten Senioren hochsignifikant seltener auf.
Zum ST-Hebungs-Infarkt (STEMI) bei Patienten ab 80 Jahren gibt es vor allem Registerdaten sowie Evidenz aus Beobachtungsstudien, so die Expertin. Sie nannte als Beispiele das SWEDEHEART- und das Vienna-STEMI-Register sowie eine Studie von 2016. Letztere hatte sogar nur über 85-Jährige eingeschlossen. Die PCI hatte den „Octogenarians“ jeweils ein deutlich verbessertes Outcome gebracht.
Schließlich verwies Stähli noch auf das SHOCK Trial Register, in dem bei kardiogenem Schock ein Benefit einer frühen Revaskularisation beobachtet wurde: „Dies galt auch für Patienten der Subgruppe über 75 Jahre.“
Alle Faktoren bei der Entscheidung berücksichtigen
„Bei unseren älteren Patienten müssen wir erhöhte Komplikationsrisiken der PCI beachten“, betonte Stähli, „etwa ein stärkeres Risiko für Blutungen, Nierenschädigung oder Komplikationen an den Zugangswegen.“ Sie riet deshalb, wo immer möglich einen radialen Zugang anzustreben und kontrastmittelsparend zu arbeiten. Es gelte, den optimalen Bereich zu finden, in dem der klinische Nutzen der Intervention in einem guten Verhältnis zum prozeduralen Risiko steht.
Und hier schließt sich der Kreis, denn, um dies zu erreichen, müssen neben den üblichen herzchirurgischen Risikoscores auch Komorbidität und „Frailty“ des Patienten sowie der voraussichtliche Zugewinn an Lebensqualität und der Erhalt oder die Wiederherstellung der Unabhängigkeit des Patienten berücksichtigt werden.
Ein Ansatz, dieses komplexe Problem systematisch anzugehen, ist die Cruz Senior Studie, die in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Frankreich laufen wird. Sie soll etwa 3.000 Patienten ab 80 Jahren mit elektiver oder notfallmäßiger PCI (also mit CCS oder ACS) einschließen, die einen Sirolimus-freisetzenden Stent erhalten. In einem umfassenden geriatrischen Assessment werden hier Komorbidität, funktioneller Status und Gebrechlichkeit der Patienten erfasst. Dafür sollen aussagekräftige Marker gefunden und evaluiert werden. Laut Stähli ist eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit unverzichtbar, um dieses Ziel zu erreichen.
Nutzen der PCI beim ACS überzeugend, beim CCS weiterhin unklar
Sitzungsleiter Prof. Dr. Harald Rittger, Ärztlicher Leiter der Klinik für Herz- und Lungenerkrankungen am Klinikum Fürth, kommentierte die Studienlage zu Hochbetagten mit Indikation für eine PCI: „Es ist sehr ernüchternd, dass wir zwar tatsächlich zunehmend Evidenz für das akute Koronarsyndrom haben, aber für die stabile Angina pectoris, die ja auch unser täglich Brot ist, relativ wenig.“
Rittger bestätigte die Bedeutung von Komorbidität und Frailty für die Entscheidung pro versus contra PCI bei sehr alten Patienten. Seine Frage, ob es einen einfachen, praktikablen Risikoscore für diese Frage geben könnte, beantwortete Stähli mit der Forderung nach weiteren Studien und Registeranalysen. Bisher werden nach ihren Worten geriatrische Parameter auch bei sehr alten PCI-Patienten noch viel zu selten systematisch erfasst.
Medscape © 2021
Diesen Artikel so zitieren: 80+ und PCI-Indikation: Für welche Hochbetagten ist das Herz-Katheterlabor noch sinnvoll? - Medscape - 16. Apr 2021.
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