Long-COVID macht mir Sorgen. Wir sehen teils schwere Symptome, wissen aber kaum etwas über die Ursachen. Hinzu kommt, dass Long-COVID mittlerweile eine immense Aufmerksamkeit hat. Das sind nahezu perfekte Rahmenbedingungen für eine medizinische Iatrogenese. Als iatrogen bezeichnet man Krankheitsbilder, welche durch ärztliche Maßnahmen verursacht oder verschlimmert werden.
Ein Patient mittleren Alters berichtet Monate nach einer SARS-CoV-2-Infektion über ungewöhnliche Müdigkeit. Sein Arzt beschließt, eine Elektrokardiographie (EKG) durchzuführen, um etwaige Herzerkrankungen durch COVID-19 nachzuweisen. Das EKG zeigt nur unspezifische Veränderungen. Daraufhin wurde eine Belastungsuntersuchung des Herzens mit Radionukliden durchgeführt, gefolgt von einer Koronarangiographie. Der Arzt findet zwar keine Erkrankung der Koronararterien. Es kommt jedoch zu einer Koronardissektion, also einem Riss in der Wand eines Herzkranzgefäßes. Deshalb benötigt der Patient einen Stent.
Dieser Fall ist fiktiv, ähnelt aber einer Beschreibung, die kürzlich in JAMA Internal Medicine veröffentlicht worden ist.
Hinter einer medizinischen Iatrogenese stecken meist 4 Faktoren: gute Absichten, Unsicherheit, der Wunsch zu handeln, statt zu beobachten und – am wichtigsten – Angst.
Long-COVID bekommt viel Aufmerksamkeit bei Ärzten und Forschern
Derzeit lesen und hören wir viel über Long-COVID. Diese mediale Aufmerksamkeit führt zu einem Phänomen des sozialen Lernens. Menschen erwarten und fürchten, noch lange nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 an diversen Beschwerden zu leiden. Im digitalen Zeitalter braucht man kaum noch Quellen, um dies zu dokumentieren.
Wie solche Lerneffekte funktionieren, zeigt folgendes Beispiel: In dieser Übersichtsarbeit zu Medikamentenstudien bei schweren Depressionen (Major Depression) über 2 Jahrzehnte fanden die Autoren eine deutliche Zunahme der Reaktion auf Placebos im Laufe der Zeit.
Placebos sollten eigentlich nicht effektiver werden. Eine Erklärung ist, dass die Menschen mit zunehmender Verbreitung der Psychopharmaka-Therapie gelernt haben, positive Effekte zu erwarten.
Eine Google-Suche nach „long-haul COVID“ (Synonym für Long-COVID oder Post-COVID-19) führte zu 83 Millionen Treffern. Zahlreiche einflussreiche Medien haben überzeugende Anekdoten von Menschen veröffentlicht, die noch Monate nach ihrer Erstinfektion an einer Vielzahl mysteriöser Symptome litten.
Long-COVID bekommt aber auch viel Aufmerksamkeit von Wissenschaftlern. Man bedenke, dass eine Übersichtsarbeit über Post-COVID-19 in Nature Medicine , die im Oktober 2020, nur 7 Monate nach der Pandemie, eingereicht worden ist, bereits 226-mal zitiert wurde.
Und angesichts der Tatsache, dass die National Institutes of Health (NIH) 1,15 Milliarden US-Dollar ausgeben werden, um Long-COVID zu untersuchen, ist mit noch mehr Aufmerksamkeit von geförderten Wissenschaftlern zu rechnen. Bei den NIH ist jetzt von der neuen Bezeichnung „Post acute sequelae of SARS-CoV-2 infection“ (PASC; postakute Folgeerscheinungen der SARS-CoV-2-Infektion) die Rede.
Patienten wünschen sich Untersuchungen
Auch wir Ärzte lesen Nachrichten. Zahlreiche Patientenvertreter fordern, Long-COVID als Erkrankung anzuerkennen. Und wir Ärzte sehen auch unsere Reputation in Gefahr, falls wir ihren Symptomen nicht ausreichend Beachtung schenken.
Der einflussreiche Autor Ed Yong, äußerte im US-Magazin Atlantic seine Befürchtung, dass allein die Andeutung, dass womöglich Stress oder Angst eine Rolle bei Long-COVID, spielen könne, einer medizinischen Verleumdung gleichkomme.
Es gibt 2 grundlegende Möglichkeiten, um als Arzt Fürsorge zu zeigen: Wir setzen uns hin, hören aktiv zu und zeigen Empathie. Das ist schwierig. Oder wir geben Untersuchungen in Auftrag.
Bei Patienten kommen Tests gut an. „Mein Arzt kümmert sich wirklich um mich, denn er hat eine ganze Reihe von Untersuchungen angeordnet, darunter auch ein MRT“, das hört man immer wieder. Aber Tests können zu weiteren Tests führen, und diese Kaskaden ziehen mitunter psychische, physische oder finanzielle Schäden nach sich.
Studien mit Selektionsbias
Es ist keine Provokation, wenn man bei dem Phänomen Long-COVID von wissenschaftlicher Unsicherheit spricht.
Beginnen wir bei den Symptomen. Einige der häufigsten sind:
Müdigkeit
Schwäche
Schlaflosigkeit
Dyspnoe
benebeltes Gefühl beim Denken
Sie lassen sich alle kaum quantifizieren. Müdigkeit im Vergleich zu was? Was die kognitiven Fähigkeiten betrifft, so war es in den letzten 12 Monaten nicht einfach, seine Konzentrationsfähigkeit zu behalten. Und ich kann an 2 Händen abzählen, wie viele Menschen ich in der Klinik gesehen habe, die berichteten, sie hätten gut geschlafen.
Selektionsverzerrungen in Studien machen die Sache nicht besser. Für eine Publikation mit fast 900.000 Seitenaufrufen und 132 Zitationen haben Forscher Patienten aus einer speziellen Ambulanz für Post-COVID-Beschwerden aufgenommen.
Eine andere Studie bezog Patienten aus dem COVID-19 Precision Recovery Program des Mount Sinai Hospital ein. Und in einer Bloomberg-News-Story mit dem Titel „COVID Everlasting“ rekrutierten Wissenschaftler Patienten für ihre Studie via Twitter: „Falls Sie denken, an Long-COVID zu leiden, lassen Sie uns bitte wissen, welche Symptome Sie haben.“
Mit dieser Strategie wählt man vorzugsweise Menschen aus, die Symptome haben. Es gab weltweit 126 Millionen Fälle von COVID-19. Warum wird nicht eine Zufallsstichprobe von Menschen in verschiedenen Zeitabständen nach ihrer Erstinfektion untersucht? Auf diese Weise könnten wir die wahre Prävalenz von Long-COVID in Erfahrung bringen.
Long-COVID ohne Virusinfektion?
Am verwirrendsten sind Berichte über Long-COVID-Symptome ohne Nachweis einer SARS-CoV-2-Infektion. In einem kürzlich erschienenen Preprint wurden 205 unterschiedliche Beschwerden in den Monaten nach der Infektion aufgelistet.
Ungefähr 1.700 aller untersuchten Patienten hatten ein negatives Ergebnis bei der PCR; 600 wurden positiv getestet. Von 205 Symptomen traten nur Geruchs- und Geschmacksverlust bei positiv Getesteten signifikant häufiger auf als bei den negativ Getesteten. Andere Gruppen kamen bei ihrer Forschung zu ähnlichen Ergebnissen.
Natürlich sind solche Untersuchungen nicht frei von Fehlern. Vielleicht waren Tests nach einer Infektion nicht früh genug verfügbar; vielleicht waren einige Ergebnisse auch falsch-negativ. Aber es scheint doch recht wahrscheinlich zu sein, dass viele Menschen, die an Long-COVID-Symptomen leiden, nie mit dem Virus infiziert waren. Das ist mir ein Rätsel.
Keine falschen Anreize in der Versorgung schaffen
Wenn Ärzte mit Patienten konfrontiert werden, die Symptome haben, werden sie in vielen Gesundheitssystemen, insbesondere in den Vereinigten Staaten, dazu angehalten, Untersuchungen durchzuführen.
Ein Kardiologe, der bei einem Patienten mit Long-COVID-Symptomen eine Echokardiographie, eine Perfusionsuntersuchung mit Radionukliden oder ein kardiales Monitoring anordnet, erscheint nicht nur fürsorglich, sondern verdient auch daran.
Obwohl es recht zynisch wäre, die wachsende Zahl an Kliniken zur Post-COVID-Versorgung ausschließlich mit finanziellen Motiven in Verbindung zu bringen, ist es auch nicht falsch, die stark wettbewerbsorientierte Natur der Gesundheitsversorgung im Blick zu behalten. Aus der Perspektive eines Krankenhaus-Betreibers bietet Long-COVID eine Gelegenheit, den Marktanteil zu erhöhen und Geld zu verdienen.
Was wir aus der Geschichte lernen sollten
Meine beste Antwort auf das Problem von Long-COVID ist: Wir müssen uns dem Thema empirisch nähern.
Erstens sollten wir uns daran erinnern, dass die meisten medizinischen Interventionen nicht funktionieren oder nur bescheidene Effekte haben; Präparate mit magischen Kräften wie Antibiotika, Insulin oder HIV-Medikamente, sind die Ausnahme, nicht die Regel. Daher sollten wir nicht nur davon ausgehen, dass es für Long-COVID keine einfache Lösung gibt. Vielmehr gilt es, auf die Gefahr iatrogener Schäden zu achten.
Zweitens sind postvirale Symptome nach einer durchgemachten Infektion bekannt. Während der Pandemie kam es zu etlichen Infektionen; es wird eine Menge postviraler Symptome geben.
In der Elektrophysiologie haben wir seit langem Patienten mit autonomen Störungen gesehen, etwa mit inadäquater Sinustachykardie, kurz IST, die auf mysteriöse Weise nach einer Infektion begonnen hat.
Die Geschichte der IST erweist sich als lehrreich. Ihre Entdeckung fiel mit der Blütezeit der Katheterablation für supraventrikuläre Tachykardien (SVT) zusammen. Angetrieben durch den Erfolg der SVT-Ablation favorisierten viele Ärzte die Ablation des Sinusknotens bei einer IST. Dies erwies sich sowohl wegen der mangelnden Wirksamkeit als auch wegen schwerwiegender Komplikationen als wenig erfolgreich. Ein medizinisch konservativer Ansatz hätte viele Patienten mit postviraler IST vor iatrogenem Schaden bewahrt.
Plädoyer für einen medizinisch konservativen Ansatz
Long-COVID eignet sich auch gut für einen medizinisch konservativen Ansatz. Diagnostische Algorithmen und therapeutische Interventionen sollten in Studien untersucht werden, die geeignete Kontrollarme beinhalten.
Menschen mit Symptomen sind per Definition leidend. Aber Fürsorge, Empathie und die Selbstheilungskräfte walten zu lassen, scheinen mir die beste Empfehlung zu sein. Machen Sie diese Strategie zum Kontrollarm und vergleichen Sie sie mit den Ergebnissen von Interventionen.
Auf diese Weise ist es wahrscheinlicher, dass wir unser ärztliches Versprechen, durch Diagnostik und Therapieversuche keinen Schaden anzurichten, einhalten können.
John Mandrola ist Kardiologe mit dem Schwerpunkt Elektrophysiologie aus Louisville, Kentucky, Autor und Podcaster für Medscape. Er befürwortet einen konservativen Ansatz in der medizinischen Praxis. Er beteiligt sich an der klinischen Forschung und schreibt häufig über den Stand der medizinischen Erkenntnisse.
Der Artikel wurde von Michael van den Heuvel aus www.medscape.com übersetzt.
Medscape © 2021
Diesen Artikel so zitieren: „Long-COVID macht mir Sorgen“ – US-Kardiologe kritisiert Hype um Symptome ohne Evidenz und fürchtet Schäden durch Über-Therapie - Medscape - 14. Apr 2021.
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