„Zeit der Daten-Sparsamkeit ist vorbei“: Sachverständigenrat plädiert für neues Konzept zum Wohle der Patienten

Christian Beneker

Interessenkonflikte

14. April 2021

Die Zeit der Daten-Sparsamkeit und der engen Zweckbindung, um Gesundheitsdaten sicher unter Dach und Fach zu halten, sei vorbei. So sieht es der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) in seiner jüngsten Stellungnahme „Digitalisierung für Gesundheit – Ziele und Rahmenbedingungen eines dynamisch lernenden Gesundheitssystems“ [1]. Ziel des Expertengremiums ist, Datenschutz neu zu definieren, „zeitgemäß und realistisch“, wie es im Papier heißt.

Deutschland hänge im Vergleich mit Dänemark oder Estland bei der Digitalisierung des Gesundheitssystems weit hinterher und hinterlasse an diesem Punkt „den Eindruck eines Entwicklungslandes“, kritisiert Prof. Dr. Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des SVR. „Bei uns herrscht noch zu oft Zettelwirtschaft und zwischen Ärzten der Fax-Standard!“

 
Bei uns herrscht noch zu oft Zettelwirtschaft und zwischen Ärzten der Fax-Standard! Prof. Dr. Ferdinand Gerlach
 

Als Gründe der digitalen Rückständigkeit nennt Gerlach die hierzulande immer noch praktizierte Daten-Sparsamkeit und die enge Zweckbindung von Datenspeicherungen als Mittel des herkömmlichen Datenschutzes. Der SVR dagegen erklärt, Datenschutz müsse als „Teil eines umfassenden Patientenschutzes neu gedacht werden.“

Erweiterte informationelle Selbstbestimmung

Datenschutz alter Schule sei inzwischen „wirklichkeitsfremd“, weil er entworfen worden sei, als noch niemand von Big Data und künstlicher Intelligenz in der Gesundheitsversorgung gesprochen habe, so Gerlach. „Darauf hat 2017 schon der Deutsche Ethikrat hingewiesen: Der Datenschutz traditioneller Couleur lässt Potentiale ungenutzt und bietet keinen zusätzlichen Schutz.“ 

 
Der Datenschutz traditioneller Couleur lässt Potentiale ungenutzt und bietet keinen zusätzlichen Schutz. Prof. Dr. Ferdinand Gerlach
 

Vor allem werde er nicht dem autonomen Anrecht jedes einzelnen Patienten gerecht, dass seine Daten optimal genutzt und bestmöglich eingesetzt würden, um Leben und Gesundheit zu schützen, so Gerlach. Die Informationelle Selbstbestimmung sei mehr als der Schutz personenbezogener Daten. Stelle man den Patientennutzen in den Vordergrund, so müsse Datenschutz auch bedeuten, Gesundheitsdaten gezielt einzusetzen, um die Versorgung zu verbessern, sagt der Experte.

Es sei nicht nur unethisch, Daten zu missbrauchen. Es sei auch unethisch, vorhandene Daten nicht zu nutzen, die für eine optimale Patientenversorgung notwendig sind, so Gerlach zu Medscape. „Wir weisen auf das Risiko der Unterlassung hin, ein Risiko, das hierzulande oft unterschätzt wird. Daten teilen heißt besser heilen“.

Zur Debatte stehen beispielsweise Daten der neuen elektronischen Patientenakte (ePA). Sie sollten nach Ansicht des SVR der Forschung zur Verfügung gestellt und dazu in Forschungsdatenzentren gesammelt werden. Ethikkomitees wachen darüber und entscheiden, welche Forschungseinrichtungen welche Daten erhalten und nutzen, so die Idee.

Widerspruchslösung bei der ePA

Um aussagekräftige Gesundheitsinformationen zu sammeln und damit milliardenschwere Investitionen in die ePA zu rechtfertigen, plädiert der Sachverständigenrat für eine Widerspruchslösung. Laut Vorschlag erhält jeder Bürger direkt nach der Geburt oder nach seinem Zuzug nach Deutschland automatisch eine ePA. Damit ist das Recht von Ärzten verbunden, Einsicht zu nehmen, Daten zu verarbeiten und zu speichern.

Laut SVR-Konzept können die Patienten ihre Daten aber „verschatten“, sprich bestimmten Ärzten ganz oder teilweise unzugänglich machen. Oder Patienten greifen zur Opt-Out-Lösung und lehnen die ePA ab.

„Dürfte ein Patient, dessen Behandlung von der Allgemeinheit bezahlt wird, die Herausgabe seiner Daten für die Forschung und die Verbesserung der Versorgung verweigern?“, fragt Gerlach. Die Antwort liegt für den SVR auf der Hand: In einer Solidargemeinschaft hält er das Teilen von anonymisierten oder pseudonymisierten Daten für die Forschung zum Wohle aller sogar für geboten.

Zustimmung oder Widerspruchslösung?

Mit seinen Vorschlägen empfiehlt der SVR den umgekehrten Weg wie in Deutschland derzeit geplant. Vorgesehen ist, dass Patienten der Einrichtung, Befüllung, Einsichtnahme beim Kontakt mit Leistungserbringern ihre Zustimmung geben müssen: eine serielle Opt-In-Lösung.

„Dass es für die in anderen EU-Ländern übliche Widerspruchslösung derzeit in Deutschland keine politische Mehrheit gibt, wissen wir“, sagt Gerlach zu Medscape. Tatsächlich hat der Bundestag ein vergleichbares Konzept bei der Organspende Anfang 2020 abgelehnt. So, wie die ePA heute konzipiert werde, sei sie nicht zukunftsfähig, betont der SVR. Wahrscheinlich müsse Deutschland sich zuerst eine blutige Nase holen, bevor man einsehe, dass bei der ePA eine Widerspruchslösung besser wäre, meint Gerlach. „So wie jetzt geplant, wird die ePA jedenfalls im Alltag nicht fliegen.“

 
So wie jetzt geplant, wird die ePA jedenfalls im Alltag nicht fliegen. Prof. Dr. Ferdinand Gerlach
 

Natürlich laden Gesundheitsinformationen zum Missbrauch ein. Um das zu verhindern, schlägt der SVR vor, Daten technisch besser zu schützen und Strafen zu verschärfen. Da Rahmenbedingungen für das Gesundheitssystem in Deutschland von der öffentlichen Hand bestimmt würden, könne auch ihre Kontrolle durchgesetzt werden, argumentiert der SVR.

Mahnende Worte vom Bundesdatenschutzbeauftragten

Kritik an der Ausweitung des Datenschutzbegriffs kommt vom Bundesdatenschutz-Beauftragten Prof. Dr. Ulrich Kelber: „Diese Digitalisierung muss eine hohe Qualität haben und darf nicht einfach unsere gesellschaftlichen Werte über Bord werfen“, so Kelber auf Anfrage. „Das gilt insbesondere für den Gesundheitsbereich und den Umgang mit sensiblen Gesundheitsdaten.“

Kelber ergänzt: „Ich wundere mich darüber, dass der Sachverständigenrat jetzt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einschränken will, um an Forschungsdaten zu kommen. Wer wirklich an das Wohl der Patientinnen und Patienten denkt, kann nicht ernsthaft die Schwächung ihrer schützenden Grundrechte fordern.“ 

 
Wer wirklich an das Wohl der Patientinnen und Patienten denkt, kann nicht ernsthaft die Schwächung ihrer schützenden Grundrechte fordern. Prof. Dr. Ulrich Kelber
 

 

Kommentar

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