MEINUNG

„Als hätte Corona mein Gehirn aufgefressen“: Diese Ärztin hat Long-COVID – wie die Krankheit ihr Leben veränderte und sie mit der Ungewissheit umgeht

Dr. Astrid Viciano

Interessenkonflikte

7. April 2021

Spätestens als sie den Namen der Bundeskanzlerin nennen sollte, wusste die Ärztin Sabine Hagen, dass etwas nicht stimmte. Es war im Herbst 2020, die 39-Jährige spielte Karten mit ihrem Patenkind, ein Wissensspiel, sie war an der Reihe und sollte den Namen der deutschen Politikerin sagen. Sabine Hagen haderte und suchte verzweifelt in ihrem Gedächtnis wie in einer dunklen, leeren Kiste. Nichts. Kein Name, nicht einmal der Ansatz einer Idee.

„Ich rettete mich aus der Situation, in dem ich mein Patenkind aufforderte, die Antwort zu sagen“, erinnert sich Hagen. Doch musste sie sich in diesem Moment endgültig eingestehen, dass sie noch nicht genesen war, viele Wochen nach ihrer Infektion mit dem neuen Coronavirus.

Bis heute leidet Sabine Hagen an den Spätfolgen ihrer COVID-19-Erkrankung. Die Ärztin wünschte sich für dieses Portrait, dass ihr Name geändert wird, weil sie auch in ihrem Arbeitsalltag noch immer mit Symptomen zu kämpfen hat. Inzwischen sind diese Beschwerden als Long-COVID bekannt. Ärzte wissen derweil auch, dass die sehr vielseitigen Symptome besonders oft junge Frauen treffen, ohne Risikofaktoren, mit einem leichten bis mittelschweren Verlauf. „Ich habe das Coronavirus immer ernst genommen, doch dass mich die Erkrankung so aus der Bahn werfen würde, damit habe ich nicht gerechnet“, sagt Hagen.

Beginn der Corona-Erkrankung

Die Medizinerin joggte im vergangenen Sommer noch dreimal in der Woche 10 Kilometer in einem Wald in der Nähe von Mainz, sie spielte Tennis, ernährte sich stets gesund.

Im Oktober 2020 hatte sie sich mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert. Wo, weiß sie bis heute nicht, vielleicht im Restaurant, in dem sie sich nach langer Zeit für 2 Stunden mit einer Freundin traf. Vielleicht auch in der Praxis, in der sie als Internistin arbeitet, die Räume sind klein und schwer zu lüften.

 
Ich habe das Coronavirus immer ernst genommen, doch dass mich die Erkrankung so aus der Bahn werfen würde, damit habe ich nicht gerechnet. 39-jährige Ärztin mit Long-COVID
 

Zunächst hatte sie die ersten Symptome ihrer Erkrankung zu ignorieren versucht. Nachts war ihr plötzlich unwohl, ihre Glieder schmerzten, sie wälzte sich von einer Seite auf die andere. Nie zuvor war sie ernsthaft krank gewesen, nicht einmal an einen grippalen Infekt konnte sie sich erinnern. Daher maß sie dem Ganzen nicht viel Bedeutung zu und machte sich an jenem Wochenende im Oktober wie jeden Samstag auf den Weg zum Markt, eine Viertelstunde Fußweg, für die junge Ärztin ein Klacks. Normalerweise.

Diesmal aber war alles anders. Sie kaufte noch Obst und Gemüse, ihren Biokäse und Biobrot, als sie sich plötzlich unendlich müde fühlte. „Meine Muskeln taten unheimlich weh – und ich hätte alles dafür getan, in meinem Bett zu liegen“, sagt Hagen.

Mit letzter Kraft schleppte sie sich nach Hause. Dort sah sie auf der Corona-App ihres Telefons, dass sie in den vorhergehenden Tagen 4 Risikobegegnungen gehabt hatte. Sofort begann es in ihrem Kopf zu rasen. Wo war sie in den vergangenen Tagen gewesen, mit wem hatte sie Kontakt, wann und wie lange? Gleich am Montag ließ sie bei einem Hausarzt einen Corona-Test machen. Am Dienstag kam das Ergebnis: Sie war positiv. „Mist, nun muss ich wohl 2 Wochen zu Hause in Quarantäne bleiben“, hatte sie nur gedacht.

Sorgen um ihre eigene Gesundheit machte sich Sabine Hagen zu diesem Zeitpunkt nicht. Nichts ließ darauf schließen, dass sie noch Monate später an den Folgen der COVID-19-Erkrankung leiden würde. Zu diesem Zeitpunkt wusste noch niemand genau, welche Organe das Coronavirus befällt, welche Entzündungsprozesse im Körper entstehen. Noch war kaum bekannt, dass eine COVID-19-Erkrankung auch langfristige Folgen haben konnte. Sabine Hagen war zunächst nur darauf bedacht, ihre akuten Symptome gut zu überstehen.

Die Angst vor einem schweren Verlauf

Als sie ihr Testergebnis erhielt, ging es ihr bereits deutlich schlechter als am Wochenende, sie war inzwischen so matt und erschöpft, dass sie fast den ganzen Tag schlief. Selbst zum Telefonieren mit Freunde oder Familie hatte sie kaum Kraft. Sie litt unter fürchterlich brennenden Kopfschmerzen, die weder ASS noch Novalgin wirklich linderten. Auch hatte sie ihren Geruch- und Geschmackssinn verloren. „Als ich in ein Käsebrot biss, fühlte es sich an, als hätte ich Pappe im Mund“, sagt sie. Die Medizinerin musste sich zwingen, überhaupt etwas zu sich zu nehmen, ernährte sich 3 Tage nur von Orangensaft und Toastbrot. 4 Kilo an Gewicht sollte sie verlieren, in 10 Tagen.

Allmählich begannen ihre Gedanken zu kreisen. Würde ihr Immunsystem verrücktspielen, würde sie Atemnot entwickeln? Doch gelang es ihr immer wieder, sich zu beruhigen, ihre eigenen Symptome nüchtern zu analysieren. Woran litt sie gerade, wie entwickelten sich die Symptome?

Erleichtert stellte sie fest, dass sie an keinerlei Luftnot litt. Ab dem 7. Tag begannen die Schmerztabletten schließlich zu wirken. „Das hat mir psychisch enormen Aufwind gegeben“, sagt Hagen. Als sie endlich wieder Appetit verspürte, stellen ihre Freunde einen großen Topf Milchreis mit Zimt vor ihre Haustür.

Nach Ende der Quarantäne hatte sie noch eine Woche Urlaub, dann sollte es mit ihrem gewohnten Alltag weitergehen. So dachte Sabine Hagen jedenfalls. Tatsächlich aber musste sie erfahren, dass die Erkrankung noch lange nicht überstanden war.

 
Ich wusste nicht, ob ich mir das alles nur einbildete. Ich spürte aber, wie mir die Kontrolle über meine geistigen Fähigkeiten entglitt, als hätte Corona mein Gehirn aufgefressen. 39-jährige Ärztin mit Long-COVID
 

So besuchte sie am Wochenende ihres Urlaubs einen Buchladen, sie freute sich darauf, einer Freundin ein schönes Geburtstagsgeschenk zu kaufen. „Ich war sehr guter Dinge“, erinnert sie sich. Doch dann, plötzlich, begann ihr Herz zu rasen, ihr wurde heiß und kalt, sie dachte, sie würde ohnmächtig.

Plötzlich in die Notaufnahme

Sie ließ sich mit dem Taxi in die Notaufnahme einer Universitätsklinik fahren, in der eine Freundin von ihr als Ärztin tätig ist. Dort zeigte sich im Ultraschall des Herzens ein schmaler Saum, als Zeichen für eine Ansammlung von Flüssigkeit im Herzbeutel, ein Perikarderguss. Sollte Sars-CoV-2 ihr Herz angegriffen haben? Eine Woche später bestätigte sich im Kernspintomogramm: Sie litt an einer Entzündung des Herzmuskels, einer Myokarditis.

Damit jedoch nicht genug. Sie merkte allmählich, dass noch etwas anderes nicht stimmte. Als sie zum 1. Mal wieder Auto fahren wollte, musste sie sich zunächst in Erinnerung rufen, mit welchem Fuß sie aufs Gas, mit welchem auf die Bremse treten musste. „Ich war extrem unsicher“, sagt sie. Und als sie in ihre Praxis zurückkehrte, konnte sie den Schilderungen ihrer Patienten nicht mehr folgen. Was hatten sie erzählt, über welche Symptome hatten sie geklagt? Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass sie überfordert war, ein Gefühl, dass sie bis dahin nicht gekannt hatte.

„Ich wusste nicht, ob ich mir das alles nur einbildete. Ich spürte aber, wie mir die Kontrolle über meine geistigen Fähigkeiten entglitt, als hätte Corona mein Gehirn aufgefressen“, erklärt Hagen. Wie in jenem Moment, als sie nach dem Namen der Bundeskanzlerin suchte. So musste es sich für Patienten anfühlen, die an einer Demenz erkranken, dachte sie: „Ich sprach mit niemandem darüber, es war mir sehr unangenehm“. Plötzlich ergriff sie die Angst, ihren Arbeitsalltag nicht mehr bewältigen zu können.

Wie lange geht Long-COVID?

Im November las sie erstmals von Patienten mit Long-COVID, brachte das aber zunächst nur mit Menschen nach einem schweren Verlauf von COVID-19 in Verbindung. Im Dezember schließlich hörte sie von einer Studie in der Post-COVID-Ambulanz der Universität Aachen, die sich mit kognitiven Defiziten nach einer COVID-19-Erfahrung beschäftigt.

 
Ich schämte mich bei meinem Arzttermin, über meine Beschwerden zu sprechen. Prof. Dr. Andreas Rembert Koczulla
 

Erste Tests der Studie hat die 39-Jährige bereits hinter sich gebracht. Im Sommer soll sie nochmals hinfahren, zur Kontrolle. Nur langsam begann sie zu verstehen und zu akzeptieren, dass sie tatsächlich an Long-COVID litt. „Das hat mich zwar beruhigt, weil ich nun wusste, was mit mir los war“, sagt sie. Doch änderte das nichts daran, dass niemand ihr sagen konnte, wie lange ihr Zustand anhalten würde. „Das war sehr bedrückend für mich.“

Aber konnte sie als Ärztin besser mit ihrer COVID-19-Erkrankung umgehen? Hagen erzählt, dass sie vielleicht analytischer anihre Krankheitssymptome herangegangen ist als Nicht-Ärzte. Sie versuche möglichst nüchtern zu analysieren, was gerade mit ihr geschieht. Zudem konnte sie sich natürlich in der Fachliteratur belesen,
was sie jedoch bald wieder aufgegeben hatte, weil ihre Gedanken dann zu
sehr um ihre Long-COVID-Beschwerden kreisten.

Immerhin merkt sie seit Anfang März, dass sie Gesprächen wieder besser folgen kann, ihr Gedächtnis sie nicht mehr so oft im Stich lässt. „Ich bin auch wieder belastbarer, bis dahin ging ich abends nach der Arbeit direkt ins Bett“, sagt sie.

Noch aber ist die Erkrankung nicht ausgestanden. Im Dezember ergab ein weiteres Kernspintomogramm, dass die Entzündung im Herzmuskel zugenommen hatte. Auch erste Anzeichen eines bindegewebigen (fibrotischen) Umbaus war darin zu sehen. Seit 4 Wochen spürt Sabine Hagen gelegentlich einen Schmerz in der Brust, mal in Ruhe, mal bei Belastung. Demnächst wird eine neue Bildaufnahme zeigen, ob die Entzündung inzwischen abgeklungen ist.

„Mir bleibt nichts anderes als abzuwarten und mich zu schonen, das ist schon etwas zermürbend“, sagt Hagen. Zwar habe der Kardiologe sie zu beruhigen versucht. Doch sei auch er ratlos und wisse nicht, wie es weitergehen wird.

Ungewissheit und Scham belastet

Die junge Ärztin hätte sich im Verlauf der Erkrankung eine Anlaufstelle für ihre Symptome gewünscht. Da sie früher nie krank gewesen war, hatte sie gar keinen Hausarzt. „Ich schämte mich bei meinem Arzttermin, über meine Beschwerden zu sprechen“, sagt sie. Umso wichtiger sei es, noch viel mehr darüber aufzuklären, dass Long-COVID auch bei milden Krankheitsverläufen auftritt. „Meine Beschwerden wurden teilweise als psychosomatisch abgetan“, erklärt sie.

 
Wenn nach sechs bis acht Wochen noch Atemnot vorherrscht, sollte das unbedingt untersucht werden. 39-jährige Ärztin mit Long-COVID
 

Zusätzlich hätte ihr ein Fahrplan für Patienten geholfen, die sich ein paar Wochen nach ihrer COVID-19-Erkrankung noch nicht gesund fühlen. Ein Termin bei einem Arzt, der mit der Thematik vertraut ist, zum Beispiel. „Er könnte die diffusen Beschwerden einordnen und den Patienten so mehr Sicherheit geben“, sagt sie.

Gern würde sie bald wieder joggen gehen, am Ufer des Rheins, in der wärmenden Frühlingssonne. Aber wann das möglich sein wird, kann ihr derzeit niemand sagen.

 

Das Krankheitsbild von Long-COVID und Anlaufstellen für Patienten

Etwa 10% aller COVID-19 Infizierten leiden an Langzeitfolgen (Medscape berichtete). Neben Long-COVID wird auch die Bezeichnung Post-COVID Syndrom benützt. Betroffen sind alle Altersgruppen, unabhängig von der Schwere der Infektion (von asymptomatisch bis schwer) und dem Gesundheitszustand.

Mehrere Studien zeigen jedoch, dass Patienten, die wegen ihrer COVID-19-Erkrankung im Krankenhaus behandelt wurden, deutlich häufiger auch 8 oder mehr Wochen nach ihrer Entlassung (zu über 50%) unter Beschwerden leiden.

Risikofaktoren

In einer aktuellen Studie in Nature Medicine von Forschern am King's College London, wurden folgende Risikofaktoren für "Long-COVID" benannt:

  • Alter – insbesondere über 50 Jahre

  • Weibliches Geschlecht

  • Übergewicht

  • Asthma

Mehr als 5 Symptome in der ersten Woche der COVID-19-Infektion (z. B. Husten, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Durchfall, Verlust des Geruchssinns).

Hauptsymptome von Long-COVID sind:

 

  • anhaltende Müdigkeit (je nach Studie 60 bis 80%),

  • kognitive Beeinträchtigungen,

  • Kopfschmerzen

  • Angst und Depressionen

  • Schlaflosigkeit

  • Atemnot

Eine Analyse des britischen National Institute for Health Research beschrieb, dass "Long COVID" auf 4 Syndrome zurückzuführen sein könnte: dauerhafte Schädigung der Lunge und des Herzens, Post-Intensivpflege-Syndrom, postvirales Müdigkeitssyndrom und anhaltende COVID-19 Symptome.

In einer internationalen Befragung gaben fast die Hälfte der Teilnehmer an, dass sie noch Monate nach ihrer Infektion weniger als zuvor arbeiten konnten. Ein Fünftel war sogar arbeitsunfähig.

Post-COVID-Ambulanzen in Deutschland

Eine Liste der Post-COVID Ambulanzen in Deutschland finden Sie hier unter diesem Link. Im Moment werden dort über die ganze Bundesrepublik verteilt 34 Anlaufstellen – meist an Kliniken – gelistet.
 

Kommentar

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