Wie in den onkologischen Praxen nimmt der ökonomische Druck auch im stationären Bereich kontinuierlich zu. Wie stark die Ökonomie in Kliniken Entscheidungen beeinflusst, wo Fehlanreize liegen und wie sie beseitigt werden könnten diskutierten Experten auf dem Symposium „Onkologie und Ökonomie“ der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) [1].
Ökonomisierung hat nicht nur negative Effekte: Ohne Ökonomisierung wäre der Fortschritt in der stationären und ambulanten Medizin in den letzten Jahren in Deutschland nicht erreicht worden, betonte Prof. Dr. Hermann Einsele, Vorsitzender der DGHO. Mit der Einführung der DRGs seien 2003 klinische Abläufe hinterfragt und ökonomisch optimiert worden. „Kommt es aber zu einer Über-Ökonomisierung mit Fehlanreizen, so dass ökonomisches Denken zur Erlös-Steigerung die medizinische Indikationsstellung und so den ärztlichen Entscheidungsprozess beeinflusst – dann ist die berufsethische Grenze überschritten“, stellte Einsele klar.
Ökonomisierung war auch positiv, doch die negativen Folgen überwiegen
Den positiven Folgen der Ökonomisierung – patientenorientierte Versorgungsformen, ständige Aktualisierung der Leitlinien und der Klinik-typischen Behandlungsabläufe, das Hinterfragen jeder Routinemaßnahme auf ihre Notwendigkeit, die regelmäßige Überprüfung von diagnostischen Abläufen auf eine potenzielle Modernisierung hin – stehen deutlich mehr negative Folgen gegenüber. Einsele berichtete, dass
49% der Krankenhausärzte und 37% der Pflegekräfte meinen, dass sich die Qualität mit Einführung der DRGs verschlechtert hat;
sich mit umsatzbezogenen Vergütungen und finanziellen Anreizsystemen der Druck auf die „Produktivität“ der Ärzte erhöht und dies zu einer Zunahme von Operationen u.a. an der Wirbelsäule, der Endoprothesen und der Kaiserschnitte geführt hat;
die Zahl der kardialen Stents zu einem lukrativen Geschäft geworden ist – kein europäisches Land hat so viele Koronarinterventionen;
das Setzen falscher, insbesondere finanzieller Anreize auch zu Lasten der sprechenden Medizin geht, da diese im Vergleich zu technischen Leistungen viel schlechter oder gar nicht honoriert wird;
die derzeitigen Vergütungs- und Erlössysteme die beratende, betreuende, menschliche Funktion des Arztes mit der Notwendigkeit intensiver Gespräche nicht abbilden;
technische Leistungen und kurze Verweildauern in Kliniken dagegen „belohnt“ werden.
Ökonomie in der Klinik: Eine Frage der Perspektive?
Wie stark haben wirtschaftliche Aspekte in den Kliniken Einzug gehalten und patientenbezogene Entscheidungen beeinflusst? Dass die Antworten stark davon abhängen, wen man fragt, zeigen die Ergebnisse einer Studie, in der Ärzte und Geschäftsführer interviewt wurden.
Während die überwiegende Mehrheit von Ärzten bestätigt, dass aus wirtschaftlichen Motiven Patienten aufgenommen werden, die nicht unbedingt in die Klinik gehören, verneinen das die meisten der befragten Geschäftsführer, berichtete Einsele.
Dass aus wirtschaftlichen Gründen Patienten mehrfach aufgenommen werden, obwohl aus medizinischer Sicht vor der DRG-Ära nur ein stationärer Aufenthalt notwendig war, bestätigten die meisten der befragten Ärzte, die meisten der befragten Geschäftsführer verneinten das.
Alle befragten Ärzte bestätigten, dass medizinische Abteilungen und Verfahren, die dem Haus viel Geld bringen, bevorzugt ausgebaut werden; nur ein knappes Drittel der befragten Geschäftsführer bestätigte das.
In den Interviews berichteten Ärzte auch von betriebswirtschaftlich motivierten Aufforderungen an sie. Dazu gehöre, die Belegung möglichst zu maximieren und die Fallzahlen zu steigern. Aufwendige „unlukrative“ Patienten sollten hingegen möglichst vermieden werden. Auch sollten die Notaufnahmen bei Überlastung nicht beim Rettungsdienst abgemeldet werden. Die Verweildauer in der Klinik sollte nach diagnosebezogenen Fallgruppen ausgerichtet werden, „kreative Indikationen“ sollten gestellt, gewinnbringende Geräte, Prozeduren und Einrichtungen sollten ausgelastet werden.
Auch zum Fallsplitting (Entlassung und Wiederaufnahme von Patienten statt hausinterner Verlegung) werde aufgefordert und dazu, Patienten an die Klinik zu binden, auch wenn sie andernorts besser behandelt würden. Gefordert wird auch häufig, Privatpatienten bevorzugt zu versorgen.
„Ökonomie muss ärztliches Handeln optimal ermöglichen, darf dieses aber nicht bestimmen“, sagte Einsele und verwies auf das Genfer Gelöbnis des Welt-Ärztebundes, nach dem das Wohlergehen der Patienten aus berufsethischen und rechtlichen Gründen immer Vorrang vor wirtschaftlichen Überlegungen haben muss.
Fehlanreize in der stationären Versorgung
„In den Strukturen der onkologischen Versorgung gibt es Risiken für Fehlanreize“, bestätigte Dr. Martin Siess, Vorstand des Ressorts Krankenversorgung der Universitätsmedizin Göttingen. Siess nannte 4 Quellen für Fehlanreize:
die Struktur des Gesundheits- und Krankenhauswesens,
die Vergütungsmodelle und die Refinanzierung,
das Klinikmanagement (interne Budgetierung) und
Chefarztverträge/Zielvereinbarungen.
Im Gesundheits- und Krankenhauswesen führe das Nebeneinander von Wettbewerb und Bedarfsorientierung fortlaufend zu neuen Gesundheitsreformen und Regulierungsversuchen mit erheblicher Ausweitung der Bürokratie. Auch die Versuche der Gesundheitspolitik, die onkologische Versorgung (ambulant-stationär) weiterzuentwickeln, führe zu Über-, Unter- und Fehlversorgung in der Onkologie.
Tatsächlich, so Siess, befänden sich nur 50% der Patienten zur Primärversorgung in ausgewiesenen onkologischen Strukturen. Auch habe die Ergebnisqualität der onkologischen Versorgung noch immer eine zu geringe Steuerungswirkung. Hinzu komme, dass sich die Private Equity stark auf die ambulante Onkologie niederschlage.
Fehlanreize verhindern lassen sich Siess´ Ansicht nach durch eine noch stärkere Versorgungsorientierung der gesundheitspolitischen Maßnahmen auf Bundes-, Landes- und regionaler Ebene mit entsprechenden Onkologie-Konzepten. „Wir brauchen mehr Staat als Wettbewerb“, betonte Siess.
Medscape Nachrichten © 2021
Diesen Artikel so zitieren: Ökonomisierung – Medaille mit 2 Seiten: DHGO-Experten kritisieren Fehlanreize in der stationären Versorgung - Medscape - 6. Apr 2021.
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