Lockdown folgt auf Lockdown. Wenn man wollte, könnte man bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie in Deutschland schon viel wirksamere Mittel einsetzen als bislang. Die Daten, um diese Mittel auszuwählen, müsste man nur erheben wollen. Davon ist Prof. Dr. Gerd Antes überzeugt. Er ist Statistiker an der medizinischen Universität Freiburg und Mitbegründer des Deutschen Netzwerkes Evidenzbasierte Medizin.
„Zurzeit fahren wir immer neue Lockdowns und stochern doch nur in der Pandemie herum, weil uns die banalsten Zahlen fehlen“, so Antes zu Medscape. In einem Beitrag im Deutschen Ärzteblatt (DÄB) schreiben Antes und Dr. Amke Caliebe vom Universitätsklinikum Kiel [1]: „Die Corona-Krise ist auch eine ‚Missing-Data‘-Krise.“
Die beiden Wissenschaftler fordern eigentlich Naheliegendes: Daten über die geographische Herkunft von Infizierten zu sammeln, über ihren sozialen Hintergrund, über ihr „Alter, Morbidität, Testgrund, lokale Prävalenz von Infektionen und symptomatische Erkrankungen“ und so weiter. „Denn das Problem ist, dass wir immer noch nicht wissen, wo die meisten Infektionen passieren“, so Antes.
Es fehlen groß angelegte Studien
Der Statistiker vermisst groß angelegte Studien. Es habe in Deutschland zwar viele Ad-hoc-Behandlungsstudien gegeben, „allerdings ohne Kontrollarm beziehungsweise standardisierte Kontrollbehandlung mit zu geringer Fallzahl und mangelhaftem Studiendesign“, heißt es in dem DÄB-Text.
„Warum erforschen wir nicht zum Beispiel ‚Long-COVID‘ anhand eines Panels, das wir schon haben?“, fragt Antes. „Es ist ein riesen Versäumnis, dass wir die Nationale Kohorte (NAKO) nicht mit in die Erforschung von Long-COVID hineingenommen haben.“ Die NAKO Gesundheitsstudie ist eine Langzeit-Bevölkerungsstudie, in der 110.000 Menschen über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren untersucht werden. Die Studie soll über die Ursachen von Krebs, Herzinfarkt oder Infektionskrankheiten Auskunft geben.
Hier hätte man die Infizierten aus der Kohorte nachverfolgen können und nach 1, 2 und 3 Monaten die Folgen einer überstandenen Corona-Infektion erfragen können, erklärt Antes. „Stattdessen haben wir bisher herzzerreißende Einzelschicksale und anekdotische Beschreibungen – aber wir wissen nicht, was Sache ist.“ Die Ergebnisse einer Kohortenbefragung könnte man indessen auf ganz Deutschland hochrechnen.
Ähnlich wäre es mit Erkenntnissen über die Verbreitung von Corona-Infektionen in Schulen. „Längst wüssten wir Genaueres, wenn wir zum Beispiel 100 Schulen mit Präsenzunterricht, 100 mit Home-Schooling und 100 mit Hybrid-Unterricht verglichen hätten“, sagt Antes. Die Schulen mit den verschiedenen Unterrichtstypen gibt es schon. „Man müsste nur die Infektionszahlen in den verschiedenen Schul-Typen vergleichen“, sagt Antes.
„Aber das geht nicht, weil wir uns, was die Datenerhebung angeht, in der Steinzeit befinden.“ Tatsächlich fehlten in Deutschland „vernetzte Strukturen der Gesundheitsforschung, die im Krisenfall direkt einsatzbereit sind, um Forschungsaktivitäten auf nationaler Ebene zu koordinieren“, heißt es in dem DÄB-Artikel.
„Und warum nutzen wir nicht die Daten der Patienten, die wegen einer COVID-19-Infektion ins Krankenhaus kommen?“, fragt Antes. „Die Daten liegen bei den Krankenkassen vor, aber sie werden nicht ausgewertet. Oder warum vergleicht niemand die Effekte des Plastikvorhangs, der die Busfahrer von den Fahrgästen trennt. „In Berlin wird mit einem solchen Vorhang gearbeitet, in Freiburg nicht. Da könnten man doch gute Vergleiche anstellen!“
Dass die koordinierte Datenerhebung kein Hexenwerk ist, zeigte eine Beobachtungsstudie zum Nutzen von Mund-Nase-Bedeckungen, die auf Beobachtungsdaten aus verschiedenen Regionen Deutschland fußte. Neben den täglich neu Infizierten wurde auch nach Bevölkerungsdichte, Bildungsstandard oder der Altersverteilung gefragt. Das Ergebnis: Alltagsmasken sind wirksam.
Ein anderes Beispiel für eine funktionierende Datenerhebung und -auswertung: 14 Mobilfunkbetreiber haben die Nutzerdaten aus 19 EU-Ländern und Norwegen bereitgestellt, und so konnte man die Bevölkerungsmobilität während der unterschiedlichen Phasen der Pandemie erforschen.
„Augenmaß beim Datenschutz“
„Wenn man sich die Daten-Abzieherei bei Google oder Facebook ansieht, ohne dass sie hierzulande politisch behindert wird, fragt man sich schon, warum der Datenschutz in anderen Zusammenhängen so betont wird“, sagt Antes. Schließlich gehe es beim Datenschutz grundsätzlich um eine Nutzen-Schaden-Abwägung. Vor allem der Nutzen werde oft unterschätzt, weshalb die Datenschutzbestimmungen zu eng ausgelegt würden. Stattdessen würden – in guter Absicht – Existenzen ruiniert und Lebenserwartungen beeinflusst.
„Das Potenzial der Daten wird durch Ignoranz und Inkompetenz nicht erkannt“, kritisiert Antes. Vielleicht wolle man auch nicht genauer hinsehen. Denn „Wissen bindet“, so Antes. „Wenn ich die Zahlen und Fakten verdecke, habe ich politisch mehr Spielraum.“
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Diesen Artikel so zitieren: Statistiker fordert mehr Daten – vor allem zu Corona-Übertragungen – als Ausweg aus dem Stotter-Lockdown - Medscape - 1. Apr 2021.
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