Vorschläge der AOK für eine Strukturreform der Pflege: Aufhebung der Sektorengrenzen und Beratung aus einer Hand

Christian Beneker

Interessenkonflikte

24. März 2021

Der AOK Bundesverband hat in einem Positionspapier weitreichende Vorschläge zur Strukturreform der sozialen Pflegeversicherung vorgelegt: z.B. übersektorale Pflegebudgets, eine bessere Beratung ambulanter Pflegebedürftiger und ihrer Angehörigen, die jährliche Anpassung der Pflegeleistungen anhand der Grundlohnsumme. Die zusätzlichen Kosten sollen von Bund und Ländern getragen werden.

Bei den Vorschlägen gehe es „im Kern um eine verbesserte Situation der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen, den Schutz vor deren wirtschaftlicher Überforderung sowie die Gewährleistung von Beitragssatzstabilität“, erklärt Dr. Volker Hansen, Vorsitzender des AOK-Aufsichtsrates für die Arbeitgeberseite.

So sollen die Angehörigen und Pflegedürftigen in der ambulanten Pflege stärker berücksichtigt werden. „In seinem Eckpunktepapier vom Januar hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ausschließlich die vollstationäre Pflege in den Blick genommen“, kritisiert Nadine-Michéle Szepan, Leiterin des Bereichs Pflege des AOK Bundesverbandes, gegenüber Medscape. „Dabei leben nur rund 800.000 der 4 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland in einem Pflegeheim. 75% und damit der weit überwiegende Teil wird ambulant von Angehörigen und Pflegediensten gepflegt.“

Pflegebudgets sollen Sektorengrenzen überwinden

Nach den Vorstellungen der AOK sollen stationär und ambulant gepflegte Menschen zukünftig Pflegebudgets in vergleichbarer Höhe erhalten, mit denen sie die Pflegeangebote auswählen und kaufen können. So würden die Sektorengrenzen in der Pflege zum Teil überwunden. „Es könnten zum Beispiel die 1.621 Euro, die es derzeit für den Pflegegrad 4 gibt, auf 2.000 Euro angehoben und mit diesem Geld Pflegedienstleistungen eingekauft werden, wie Sachleistungen, Alltagsunterstützungsangebote oder Kurzzeitpflege“, sagt Szepan.

Damit sich die Pflegebedürftigen im Dschungel der Angebote zurechtfinden, sollen sie zuvor Beratungsangebote erhalten. So könnte auch Wildwuchs in der ambulanten Pflege bekämpft werden, wie etwa die prekären Arbeitsbedingungen von Haushaltshilfen aus Osteuropa.

Die Rentenversicherungsbeiträge für die pflegenden Angehörigen sollen künftig ebenfalls aus dem Portemonnaie des Bundes kommen statt aus dem der Pflegeversicherung – ein Punkt, in dem man sich mit dem Bundesgesundheitsminister einig sei, hieß es. Für die AOK handelt es sich hier schlicht um versicherungsfremde Leistungen.

Auch sieht das AOK-Papier vor, die häusliche Krankenpflege und die medizinische Behandlungspflege unter dem Dach der gesetzlichen Krankenversicherung zu vereinen. „Durch die Finanzierung der medizinischen Behandlungspflege unabhängig vom Ort der Leistungserbringung werden die Rahmenbedingungen für die ambulante und die vollstationäre Pflege gezielt angeglichen und bestehende Fehlanreize beseitigt“, sagt Knut Lambertin, Vorsitzender des AOK-Aufsichtsrates für die Versichertenseite.

 
Durch die Finanzierung der medizinischen Behandlungspflege unabhängig vom Ort der Leistungserbringung werden … bestehende Fehlanreize beseitigt. Knut Lambertin
 

Eigenanteil soll sinken

Zur weiteren Entlastung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen sollen zudem bei ausgewählten, besonders förderungswürdigen Leistungen die pflegebedingten Aufwendungen vollständig finanziert werden, so die AOK. Das gilt zum Beispiel für eine ressourcenorientierte Kurzzeitpflege.

Wie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in seinem Eckpunktepapier zur Pflege will auch die AOK die Eigenanteile der Pflegebedürftigen an den Pflegekosten verringern. Die Kasse wählt aber eine andere Systematik als Spahn. Der Minister hatte anfangs vorgeschlagen, den Eigenanteil für die stationäre Pflege auf 700 Euro zu deckeln.

Das AOK-Papier will aber die ambulanten Pflegebedürftigen mit in die Entlastung hineinnehmen und die Leistungen für die Pflege alljährlich aufstocken. „Diese Dynamisierung der Pflegeleistungen orientiert sich an den Bruttolohnzuwächsen und ist angelehnt an den Automatismus der Rentenversicherung“, erklärt Lambertin. Das zusätzliche Geld soll aus einem „zweckgebundenen, regelmäßig dynamisierten Bundesbeitrag in Höhe von jährlich 3,2 Milliarden Euro“ kommen.

Länder sollen investieren

Auch bei den Investitionskosten sollen die Versicherten entlastet werden. Diese Kosten in Höhe von monatlich 450 Euro müssten eigentlich die Länder zahlen, tatsächlich legen aber die Pflegebedürftigen der Pflegeheime das Geld auf den Tisch. 1995 wurden die Sozialhilfeträger, also die Länder, durch die Einführung der Pflegeversicherung enorm entlastet. Das so eingesparte Geld sollten sie eigentlich in die Infrastruktur der Heime stecken, argumentiert die AOK. Stattdessen habe sich die Politik zurückgezogen. Das soll nun anders werden, plant die AOK. Die Länder sollen Farbe bekennen und jährlich 5,5 Milliarden Euro investieren.

Auch Gesundheitsminister Spahn hatte den Pflegebedürftigen in den Heimen versprochen, sie von den Investitionskosten zu entlasten – allerdings nicht komplett, sondern um 100 Euro pro Monat und Pflegebedürftigen.

Der Bremer Pflegewissenschaftler Prof. Dr. Stefan Görres lobte das AOK-Papier. „Es betrachtet die Pflege als die gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die es auch ist“, sagte Görres zu Medscape. Die Autoren seien weise genug gewesen, nicht wie die Grünen oder die Linke gleich die Vollfinanzierung der Pflege vorzuschlagen, sondern einen ausgewogenen Finanzierungsmix. 

 
Das AOK-Papier betrachtet die Pflege als die gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die es auch ist. Prof. Dr. Stefan Görres
 

„Die Einführung des schon lange diskutierten Pflegebudgets ist ein echter Schritt. Die Einführung von beratendem Case-Management könnte Vernachlässigung und Gewalt in der ambulanten Pflege zurückdrängen. Und die stärkere Verpflichtung der Kommunen bei der Versorgungssteuerung könnte dazu beitragen, Über- und Unterversorgung zu vermeiden“, so Görres. 

 
Die Einführung von beratendem Case-Management könnte Vernachlässigung und Gewalt in der ambulanten Pflege zurückdrängen. Prof. Dr. Stefan Görres
 

Das Konzept ist nach Görres Ansicht gut genug, um nicht am Geld zu scheitern. „Es hat große Chancen“, so Görres. „Aber das Ende der Legislaturperiode in diesem Jahr könnte uns einen Strich durch die Rechnung machen. Sie wird wohl dazu beitragen, dass die Reform ganz oder teilweise auf Eis gelegt wird.“

 

MEHR

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....