Sie wirken auch ohne Täuschung: Ein Plädoyer für „Open-Label-Placebos“ – sie zeigen Effekte in klinischen Studien

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

3. März 2021

Placebos wirken, weil Patienten nicht wissen, dass es sich bei den vermeintlich wirksamen Tabletten um Placebos handelt. Davon ging man bislang aus. Placebos wirken aber auch, wenn die Probanden wissen, dass sie Scheinpräparate bekommen. Und sie wirken offenbar überraschend stark – wie eine vor kurzem in Scientific Reports erschienene Metanalyse zeigt [1].

Prof. Dr. Stefan Schmidt, Leiter der Sektion Systemische Gesundheitsforschung an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Freiburg, und seine Kollegen hatten für ihre Analyse 13 klinische Studien mit insgesamt 834 Teilnehmern ausgewertet. Ziel der Arbeit war, die Wirkung von Open-Label-Placebos (also Placebos, bei denen die Patienten wissen, dass es sich um Placebos handelt) im Vergleich zu keiner Behandlung systematisch zu überprüfen.

Untersucht wurden die Effekte von Open-Label-Placebos (OLPs) auf Rückenschmerzen, Reizdarmsyndrom, Depression, Fatigue, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Heuschnupfen und Hitzewallungen in den Wechseljahren. Schmidt und seine Kollegen fanden einen signifikanten Gesamteffekt der OLP verglichen mit keiner Behandlung (Standardisierte Mittelwertdifferenz [SMD]: 0,72, 95% Konfidenzintervall 0,39-1,05, p<0,0001).

Die Botschaft: Mehr Wert auf die sprechende Medizin legen

Die Botschaft der Metaanalyse ist, dass deutlich mehr Wert auf die sprechende Medizin gelegt werden muss, bestätigt Schmidt im Gespräch mit Medscape. „Die Studien zu Open-Label-Placebos zeigen ja, dass Worte potente messbare Effekte auslösen können. Open-Label-Placebos zeigen auch, wie wichtig die Arzt-Patienten-Beziehung ist und welche Bedeutung die richtigen Worte haben. Es ist eben ganz entscheidend, wie der Arzt etwas sagt.“ Je mehr Zuversicht der Arzt dem Patienten in Bezug auf eine heilende Wirkung der angewandten Maßnahme vermittelt, umso stärker ist meist auch die positive Reaktion des Patienten.

 
Die Studien zu Open-Label-Placebos zeigen ja, dass Worte potente messbare Effekte auslösen können. Prof. Dr. Stefan Schmidt
 

Dass die Verwendung von OLP Ärzten die Möglichkeit gibt, die Selbstwirksamkeit und Selbstheilungskraft des Patienten zu aktivieren, ohne mit Placebos täuschen zu müssen, ist aus Schmidts Sicht ein großer Vorteil: „Das bringt weniger ethische Bedenken mit sich. Man sollte als Arzt nicht täuschen. Open-Label-Placebos ermöglichen Ehrlichkeit dem Patienten gegenüber – und das ist auch ein Gewinn für die Arzt-Patienten-Beziehung.“

 
Man sollte als Arzt nicht täuschen. Open-Label-Placebos ermöglichen Ehrlichkeit dem Patienten gegenüber. Prof. Dr. Stefan Schmidt
 

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Verwendung von OLPs frei von ethischen Problemen ist. 2 neuere Publikationen haben auf andere ethische Probleme bei der Verwendung von OLPs hingewiesen, wie z.B. Selbststigmatisierung, testimoniale Ungerechtigkeit und das Risiko einer Medikalisierung von Themen, die eigentlich eher sozial oder umweltbedingt sind.

Welche Worte rufen eine positive Erwartungshaltung hervor?

Dass Placebos ohne pharmakologisch aktive Substanzen das Geschehen im Gehirn oder den Hormonhaushalt beeinflussen und erstaunliche Therapieerfolge erzielen können, ist seit langem bekannt. Bisher wurde die Wirkung der Placebos aber der Erwartungshaltung der Patienten an ein aktives Medikament zugeschrieben. Für den Placebo-Effekt gibt es 2 potenzielle Mechanismen, erklärt Schmidt: Die Erwartungshaltung des Patienten (der Arzt sagt, das ist ein gutes Medikament) oder eine Konditionierung (die Einnahme der Tablette wird mit der Wirkung assoziiert).

Auch bei der Verwendung der Open-Label-Placebos wurde die positive Erwartungshaltung der Patienten geweckt. Den Probanden wurde gesagt: „Sie bekommen ein Placebo, ein Placebo enthält zwar keinen Wirkstoff, dennoch wirken Placebos auch darüber hinaus und haben schon vielen anderen Menschen geholfen“, berichtet Schmidt. Außerdem wurden die Patienten kurz über die prinzipielle Wirkung von Placebos informiert und um regelmäßige Einnahme der Tabletten gebeten.

Die noch zu klärende Frage sei, was den Patienten genau gesagt werden müsse, um eine positive Erwartungshaltung hervorzurufen. „Reicht es aus nur zu sagen: ‚Sie bekommen ein Placebo‘? Ich vermute, dass wir in 5 Jahren – wenn mehr Studienergebnisse dazu vorliegen – wissen, wie Erwartungen verbal generiert werden müssen, also dass beispielsweise der nüchterne Satz: ‚Sie bekommen ein Placebo‘ nicht ausreicht. Das wird derzeit geprüft“, berichtet Schmidt.

Braucht man überhaupt noch Placebos mit Täuschung außerhalb von Studien?

Ob man herkömmliche Placebos mit Täuschung außerhalb von Medikamentenstudien in der Alltagsversorgung noch braucht, ist schwierig zu beantworten. Schmidt führt das Ansprechen vieler Probanden auf die OLPs auch darauf zurück, dass in letzter Zeit viel über die Wirkung von Placebos und über den Placeboeffekt berichtet worden ist. Auch das beeinflusst die Erwartungshaltungen von Patienten und wirkt sich auf die Aufgeschlossenheit aus.

„Die bewusste Einnahme eines Placebos mag zwar etwas verrückt erscheinen, aber sie hat in diesen Studien gewirkt – und damit die gezielte Täuschung der Patienten unnötig gemacht“, sagt Schmidt. „Wir konnten erstmals wissenschaftlich gesichert zeigen, dass auch offen verabreichte Placebos wirksam sein können.“

Nach Einschätzung der Freiburger Forscher könnte die Behandlung mit OLPs einen signifikanten Effekt haben, sie könnten genauso effektiv oder sogar effektiver sein als normale Placebos. Der positive Effekt von OLPs steht im Einklang mit den Ergebnissen einer kleineren Metaanalyse, die 5 Studien (234 Teilnehmer mit vergleichbaren Erkrankungen) ausgewertet hatte (SMD: 0,88).

Die derzeitige Forschung auf diesem Gebiet reiche aber noch nicht aus, um die verantwortlichen Wirkungsweisen adäquat zu erklären und stecke praktisch noch in den Kinderschuhen, so Schmidt.

 

Kommentar

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