MEINUNG

Scharfe Kritik von Pflegeexpertin – trotz und wegen der Krise: „Der Ruf der deutschen Pflegeausbildung ist schlecht!“

Christian Beneker

Interessenkonflikte

3. März 2021

Seit der Corona-Krise werden Pflegekräfte anders wahrgenommen und gewertschätzt. Doch das reicht bei weitem nicht aus und wird auf Dauer die Situation nicht verbessern.

Prof. Dr. Martina Hasseler

Die Pflege-, Gesundheits- und Rehabilitationswissenschaftlerin Prof. Dr. Martina Hasseler lehrt und forscht an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg und der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften in Braunschweig. Trotz des Beifalls und der Kränze, die derzeit den Pflegenden in der Corona-Krise geflochten werden, zieht Hasseler im Gespräch mit Medscape ein bitteres Fazit zum Thema Pflege in Deutschland und hat klare Forderungen, damit der Beruf nachhaltig mehr Anerkennung findet.

Medscape: Frau Prof. Hasseler, Das Bundesfamilienministerium und die Ministerin Franziska Giffey haben in einer mehrteiligen Youtube-Serie namens „Ehrenpflegas“ die Ausbildung zur Pflegefachkraft im Stil einer Sitcom (Medscape berichtete) dargestellt – als Werbung für den Beruf. Einige Videos haben seit vergangenem Oktober schon 2,6 Millionen Aufrufe erzielt. Sie haben diese mediale Darstellung des Berufs scharf kritisiert. Was haben Sie eigentlich gegen die „Ehrenpflegas“?

Prof. Hasseler: Die Miniserie suggeriert, dass es zum Pflegeberuf keiner besonderen Bildung bedarf und dass man da eine Ausbildung ohne besondere Anforderungen auch dann noch beginnen kann, wenn man 3 andere Ausbildungen zuvor nicht geschafft hat. Nach dem Motto: Mit ein wenig Empathie und gutem Willen reicht es zum „Ehrenpflega“, auch wenn man in der Schule keine Leuchte war. Die Miniserie ist katastrophal.

Medscape: Aber ist der Pflegeberuf als Auffangbecken für Niedrigqualifizierte nicht auch eine Realität?

Prof. Hasseler: Vielleicht ist es in der Altenpflege früher mal so gewesen. In der Altenpflege wurde der Beruf als Chance für Menschen gesehen, die etwa aus einer Umschulung kamen oder aus der Arbeitslosigkeit.

Aber in der Altenpflege war Fachwissen auch immer schon nötig, geronto-psychologisches, präventives Fachwissen zum Beispiel. Professionelle Pflege ist nichts für Menschen mit geringen Bildungsniveaus, wie die „Ehrenpflegas“. Dass die professionelle Pflege heute noch mit diesem Image kämpft, liegt an einer alten Verwechslung.

Medscape: An welcher?

Prof. Hasseler: Unser Verständnis davon, was professionelle Pflege leisten soll und kann, orientiert sich immer noch am Sozialgesetzbuch 11, und das ist falsch. Denn darin geht es vor allem um die Pflegeversicherung, nicht um die berufliche Pflege und ihre Finanzierung.

Für letztere haben wir das Pflegeberufe-Gesetz vom Juli 2017 und zuvor die entsprechenden Berufsgesetze, wie Krankenpflege-Gesetz und Altenpflege-Gesetz. Paragraf 4 und 5 legen hier genau dar, welche Aufgaben und Verantwortlichkeiten die professionelle Pflege hat: Erhebung des Pflegebedarfs zum Beispiel, Gestaltung und Steuerung des Pflegeprozesses, die selbstständige, umfassende Pflege, soziale und interkulturelle Kommunikation oder die präventive, kurative, rehabilitative pflegerische Versorgung, um nur Einiges zu nennen – und das Ganze stets auf dem aktuellen Stand der Forschung.

Statt mit dieser Definition ernst zu machen, wird die Fachlichkeit der beruflichen Pflege immer noch nicht anerkannt. Die pflegerische Arbeit wird stattdessen fortdauernd herabgesetzt. Da wird Menschen mit geringer Bildung größere Empathie und Zuwendung unterstellt, damit auch Hauptschüler ihre Chance erhalten, statt endlich den lang belegten Mehrwert anzuerkennen, den professionelle Pflege bringt.

 
Da wird Menschen mit geringer Bildung größere Empathie und Zuwendung unterstellt, damit auch Hauptschüler ihre Chance erhalten … Prof. Dr. Martina Hasseler
 

Aber die Gleichstellung von geringer Bildung mit mehr Empathie ist zum einen ein deutsches Phänomen und zum zweiten nicht ansatzweise belegbar – weder durch Erfahrung noch durch empirische Erkenntnisse.

Man muss sich fragen, ob die Ausbildung zur professionellen Pflegekraft inzwischen nicht Geldverschwendung ist. Die professionelle und fachliche Pflege wird bei uns offensichtlich nicht gewollt.

Medscape: Warum nicht? Ist das eine Frage der Kultur?

Prof. Hasseler: In anderen europäischen Ländern wurde die Pflege im Zuge der Akademisierung politisch aufgewertet – wenn auch verschiedentlich gegen erhebliche Widerstände. In Deutschland ist das bisher nicht passiert. Wir sind in der EU fast die einzigen, die keine durchgehend akademisierte Ausbildung zur Pflege anbieten.

Neben den qualifizierenden Studiengängen wird vor allem die Ausbildung an Pflegeschulen genutzt, die in anderen Ländern längst nicht mehr existieren. Und deshalb erreichen wir auch nicht das pflegerische Niveau, das in anderen Ländern längst gang und gäbe ist.

 
Wir sind in der EU fast die einzigen, die keine durchgehend akademisierte Ausbildung zur Pflege anbieten. Prof. Dr. Martina Hasseler
 

Zweitens blickt man in Deutschland auf eine lange Tradition der Mutterhäuser und Stifte zurück. Die Diakonissen oder Ordensschwestern, die hier pflegten, begriffen ihre Arbeit als Berufung. Ihr Status interessierte sie weniger. Sie folgten einfach dem Dienstgedanken. Die historische Prägung der Pflegeberufe durch diese Mutterhaustradition ist in vielen Ländern längst nicht so stark vorhanden wie hier in Deutschland.

Professionstheoretisch betrachtet ist der Pflegeberuf bei uns deshalb allenfalls eine Semiprofession geblieben: Wir sind nicht vertreten in den Gremien der Gesundheitsversorgung, etwa dem GBA, wo die Vertreter der Pflege im Zweifel nur angehört werden.

Auch hinkt die Verkammerung der Pflege hinterher. Aber wer machtvoll mitbestimmen will in Deutschland, braucht eine Kammer, weil es eine andere Art eines mitbestimmenden Organs nicht gibt.

Medscape: Wie kann man junge Leute in dieser Situation noch für die Pflege interessieren?

Prof. Hasseler: Ehrlich gesagt, rate ich von einer Pflegeausbildung ab. Wenn mich junge Leute fragen: „Soll ich in die Pflege gehen?“, dann antworte ich: „Hast Du eine Alternative?“ Wie soll man jungen Leuten einen Beruf empfehlen, der in Sonntagsreden zwar ständig gelobt wird, während er gleichzeitig unglaublich disempowert wird? Das nützt den Patienten überhaupt nichts. Pflegefachpersonen wollen keine Bittsteller mehr sein, die dauernd beweisen müssen, dass sie nicht zu teuer sind oder einen Mehrwert haben für eine gute Gesundheitsversorgung

Medscape: Aber das ist doch nicht überall so. In palliativmedizinischen Teams etwa der SAPV äußern sich die Pflegekräfte oft hoch zufrieden. Was läuft hier anders?

Prof. Hasseler: Hier wird Interdisziplinarität gelebt. Ärzte sind etwa beim Schmerzmanagement oder der Mobilisierung abhängig von der Einschätzung etwa der Physiotherapeuten und der Pflegekräfte. Wissen und Informationen werden geteilt. Es wird viel mehr auf Augenhöhe gearbeitet. Unter Pflege stellt man sich hier eben nicht eine Verrichtungsorientierung nach dem Prinzip des SGB XI vor, die man – wie ich immer salopp sage – in Waschen, Schneiden, Föhnen unterteilen kann. Die Palliativversorgung ist eine Ausnahme.

 
Ehrlich gesagt, rate ich von einer Pflegeausbildung ab. Prof. Dr. Martina Hasseler
 

Der Ruf der deutschen Pflegeausbildung ist schlecht. Immer noch werden bei uns die Azubis verbrannt und nicht richtig ausgebildet – trotz des Pflegeberufsgesetzes. Das hat Folgen, nicht nur für die Patienten.

Vor einigen Jahren hat Schweden auf EU-Ebene die Initiative angeregt, dass die deutsche Pflegeausbildung EU-weit nicht mehr anerkannt wird, weil sie unter Qualifikationsniveaus aller anderen EU-Länder die Ausbildung durchführt.
 

Kommentar

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