Bisher wird Sitagliptin als Mittel gegen Diabetes angewandt. Doch nun zeichnet sich noch eine ganz andere Indikation ab: Es könnte Leukämie-Patienten nach Stammzell-Transplantation vor der akuten Graft-versus-Host-Krankheit schützen. In einer Phase-2-Studie waren damit Angriffe der Spenderzellen auf das Gewebe des Empfängers deutlich seltener als den Erfahrungen nach zu befürchten. Dies berichten Forscher um Prof. Dr. Sherif S. Farag von der Universität Indiana in Indianapolis, USA, im New England Journal of Medicine [1].
Multitasker Sitagliptin
Sitagliptin wurde 2007 in der Europäischen Union zur Behandlung des nicht-insulinpflichtigen Typ-2-Diabetes zugelassen. Es hemmt das Enzym Di-Peptidyl-Peptidase 4 (DPP4) und setzt damit eine Reaktionskaskade in Gang, die über Freisetzung oder Drosselung der Hormone Glucagon-like Peptid 1, Insulin und Glukagon den Blutzuckerspiegel letztlich senkt.
Die Hemmung von DPP4 ist aber zugleich der Schlüsselmechanismus, der Sitagliptin zum Multitasking befähigt. Denn DPP4 kommt in Blutplasma und Organen vor, wo es eine ganze Reihe von Funktionen erfüllt. Zum Beispiel sitzt es als Rezeptor in der Membran von T-Zellen und bildet dort das Oberflächen-Antigen CD26.
Am Anfang stand ein Zufallsfund
Wie sehr Sitagliptin über das Relais DPP4/CD26 auch Transplantationen unterstützt, hatten die Forscher um Farag bereits 2013 entdeckt. Sie untersuchten Patienten, die Stammzellen aus Nabelschnurblut erhalten und den antidiabetischen Wirkstoff 4 Tage lang hochdosiert genommen hatten.
Eigentlich wollten die Mediziner prüfen, ob damit der Abbau von Wachstumsfaktoren gebremst und die Ansiedlung des Transplantats beschleunigt wird. Zu ihrer Überraschung fanden sie nicht nur diese Hypothese bestätigt, sondern auch, dass die Graft-versus-Host-Disease (GVHD) stark gebremst verlief.
Diese Attacke der neu hinzugekommenen Zellen gegen die für sie feindliche Umgebung ist eine der hauptsächlichen Komplikationen und Todesursachen nach der Übertragung allogener Stammzellen. Unter Standardprophylaxe mit Immunsuppressiva geschieht das in den höchsten Schweregraden II bis IV bei rund 30% bis 50% der Patienten innerhalb der ersten 100 Tagen nach der Transplantation.
In leichter Ausprägung ist diese Offensive jedoch durchaus nicht unerwünscht, weil sie sich auch gegen eventuell verbliebene Krebszellen richtet, Graft-versus-Tumor-Effekt genannt. Als Farag und seine Kollegen den Ursachen für die GVHD-Unterdrückung nachgingen, stellten sie fest, dass Sitagliptin über die Blockade von CD26 die T-Lymphozyten stilllegt.
Ziel: Weniger als ein Drittel der Patienten mit akuter GVHD
Diese Erkenntnisse motivierten die aktuelle Phase-2-Studie zur Transplantation von Stammzellen aus Knochenmark: Wie wirksam und sicher wehrt Sitagliptin in Kombination mit Tacrolimus und Sirolimus die akute GVHD Grad II bis IV ab?
Dazu stellten die Forscher eine einzelne Patientengruppe zusammen – also ohne Referenz – mit der Leitidee, die Inzidenz bis zum Tag 100 unter die übliche Marke von 30% zu senken. Die Teilnehmer im Alter von 18 bis 60 Jahre hatten eine akute oder chronische myeloische Leukämie, eine akute lymphoblastische Leukämie oder eine myelodysplastische Erkrankung.
Zur Vorbereitung mussten sie eine hochdosierte Radio- und/oder Chemotherapie auf sich nehmen, die sogenannte myoablative Konditionierung. Sie dient dazu, die Abstoßung zu unterdrücken und überlebende Krebszellen abzutöten, aber auch die eigenen Stammzellen zu vernichten, um im Knochenmark sozusagen Platz zu schaffen für die verwandten und nicht-verwandten Ersatzzellen mit passenden HLA-Merkmalen.
3 Tage vor der Transplantation kam – teils oral, teils intravenös – die GVHD-Prophylaxe mit Tacrolimus und Sirolimus hinzu und einen Tag vorher 600 mg Sitagliptin alle 12 Stunden. (Empfohlene Tagesdosis bei Diabetes sind 100 mg.) Der CD26-Hemmstoff wurde nach 2 Wochen abgesetzt, die Kombination Tacrolimus/Sirolimus dagegen – sofern eine GVHD ausblieb – erst nach etwa 6 Monaten.
Sitagliptin erscheint rundum in günstigem Licht
Zur Vorsicht waren 2 Abschnitte geplant: Zunächst erhielten nur 23 Patienten die Filgrastim-mobilisierten Stammzellen. Dann nach 100 Tagen, als die Zahl der Teilnehmer mit schwerer akuter GVHD unter 6 geblieben war, wurden weitere 13 behandelt.
Die Auswertung eröffnet eine optimistische Perspektive: Bis Tag 100 trat eine akute GVHD lediglich bei 2 der 36 Patienten auf, gerichtet gegen Darm, Leber und Haut. „Eine beeindruckend niedrige Inzidenz“, konstatiert der Onkologe Dr. Paul J. Martin von der Universität Washington, USA, in seinem Editorial [2].
Zudem entwickelte sich nur bei 15 Patienten innerhalb eines Jahres eine chronische GVHD, was einer Inzidenz von 37% entspricht – „ein günstiger Wert im Vergleich zu den 39% bis 53%, die andere Studien berichten“, so die Bewertung der Autoren.
Ohne Ausnahme kam es zum Anwachsen des Transplantats (Engraftment), und nach einem Monat stammten mindestens 95% der Zellen in Blut oder Knochenmark vom Transplantat. Dieser sogenannte Spender-Chimärismus gilt als Erfolgskriterium.
Die DPP4-Aktivität sowie das Niveau von Zytokinen und Biomarkern, die eine akute GVHD ankündigen, lagen meist im erwünschten Bereich, wie regelmäßige Messungen in Plasmaproben ergaben.
Schwere toxische Wirkungen – akute Hämolyse und thrombotische Mikroangiopathie – traten bei 3 Patienten auf, waren allerdings reversibel. Unerwünschte Effekte speziell durch Sitagliptin fielen dabei trotz der hohen Dosierung mild aus, und trotz des Wirkmechanismus kam es nicht zu Hypoglykämien. Ebenso wenig schien Sitagliptin Infektionen zu begünstigen, die unter Immunsuppression eine Gefahr darstellen.
Durch Schluckstörungen blieb die Therapie unter ihrem Potential
Als Manko erwies sich jedoch, dass 8 Teilnehmer – darunter gerade jene beiden mit akuter GVHD – weniger als 80% der vorgesehenen Sitagliptin-Dosierungen zu sich nehmen konnten. Grund waren Schluckschwierigkeiten, denn fast alle Patienten litten gravierend entweder an Anorexie, Übelkeit und Erbrechen oder an Mukositis. Kommentator Martin vermutet daher, dass eine parenterale Formulierung die GVHD-Prävention weiter verbessert.
94% der Patienten überlebten das erste Jahr. Die Todesfälle waren ausschließlich die Folge von Rezidiven, deren Häufigkeit in diesem Zeitraum aber bloß 26% betrug.
„Bemerkenswert ist, wie gut die Sitagliptin-Strategie damit gegenüber der etablierten GVHD-Prophylaxe abschneidet, deren Rezidivhäufigkeit zwischen 20% und 40% liegt“, schreiben Farag und seine Kollegen. Das deute darauf hin, dass Sitagliptin den vorteilhaften Aspekt der GVHD nicht beeinträchtigt – den Angriff des Transplantats gegen die Leukämiezellen.
Ebenfalls günstig im Vergleich zu herkömmlichen Schemata erscheint ein zusammengesetzter Endpunkt: Fast die Hälfte der Patienten erlebten im ersten Jahr weder eine GVHD noch ein Rezidiv.
Sitagliptin ist lange eingeführt und verlässlich
Studien, in denen eine einzelne Patientengruppe Medikamente wie Abatacept, Atorvastatin, Vorinostat und Vedolizumab erhielt, verliefen ähnlich vielversprechend, berichten die Autoren und betonen: „Doch hat Sitagliptin ihnen gegenüber den Vorzug, leicht verfügbar und anwendbar, sicher und kostengünstig zu sein – all das macht den Wirkstoff zu einem attraktiven Kandidaten für diese Indikation.“
Dass die DPP4-Hemmung allgemein einen guten Ansatzpunkt für die Prävention der akuten GVHD bietet, wird durch präklinische Studien mit CD26-Antikörpern gestützt. Martin hat einen weiteren Vorschlag: „Das regt zu Untersuchungen an, ob sich auf diesem Weg auch die akute Abstoßung transplantierter Organe verhindern ließe.“
Vor dem klinischen Einsatz müssen allerdings noch viele Fragen geklärt werden: Wie lange sollte die Sitagliptin-Behandlung dauern, um ein Optimum zu erzielen? Inwieweit ist die Kombination mit Sirolimus und Tacrolimus erforderlich? Ist Sitagliptin ähnlich erfolgreich, wenn die hochintensive Konditionierung durch eine schonendere Vorbereitung ersetzt wird, wie es für Patienten in höherem Alter oder mit Komorbiditäten ratsam wäre?
Medscape Nachrichten © 2021
Diesen Artikel so zitieren: Multitasking: Antidiabetikum Sitagliptin hemmt bei Leukämie-Patienten in der Kombi akute Graft-versus-Host-Reaktion - Medscape - 23. Feb 2021.
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