Chronisch kranke Kinder – die großen Verlierer in der Corona-Pandemie? Kinderärzte fordern dringend mehr Schutz

Julia Rommelfanger

Interessenkonflikte

22. Februar 2021

Die Situation von Familien mit chronisch schwer kranken Kindern findet in der aktuellen politischen Corona-Debatte zu wenig Beachtung, kritisieren Pädiater und Patientenorganisationen, unter anderem das Aktionsbündnis „Angeborene Herzfehler“ (ABAHF) mit der Deutschen Herzstiftung (DHS), in einem Positionspapier [1]. Darin bemängeln sie eine fehlende Impfstrategie für gefährdete Kinder und ihre Angehörigen und fordern individuelle Lösungen für einen besseren Schutz dieser jungen Risikogruppe.

Es werde sehr viel über den Schutz der älteren Bevölkerung in der Pandemie gesprochen – die Situation von Kindern aber, die ein höheres Risiko für schwere Verläufe haben, besonders also solche mit Vorerkrankungen wie angeborene Herzfehler oder Krebs, werde in der öffentlichen Diskussion zu wenig berücksichtigt, so die Kritik der Experten.

„Insbesondere Kinder mit komplexen Herzfehlern, etwa die deutschlandweit rund 5.000 bis 6.000 Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit nur einer Herzkammer, haben ein potenziell erhöhtes Risiko für schwere Verläufe“, sagt Prof. Dr. Hans-Heiner Kramer, Kinderkardiologe aus Kiel und Mitglied des Leitkreises „Kinderherzstiftung“ der DHS, gegenüber Medscape.

Gleiches gelte für Kinder mit Mukoviszidose, wie erste Ergebnisse einer noch andauernden europäischen Studie zeigen. „Mit diesen Patienten müssen wir in der Pandemie vorsichtig umgehen und für sie und ihre Familien individuelle Regelungen treffen, die ihre Gesundheit schützen“, sagt Kramer.

Präsenzpflicht für „Risikokinder“ aussetzen

Das gelte auch für die Beschulung, so die Forderung der Unterzeichner des Positionspapiers. „Für diese Kinder darf es also keine generelle Regelung hinsichtlich Distanz- oder Präsenzunterricht geben, sondern die Familien müssen selbst entscheiden können, ob sie ihr Kind in die Schule schicken“, so Kramers Forderung. Diese Entscheidung sollten die Familien immer gemeinsam mit dem behandelnden Herz- oder Lungenspezialisten treffen können statt einer für alle geltenden Weisung der Kultusministerien folgen zu müssen. 

 
Für diese Kinder darf es keine generelle Regelung hinsichtlich Distanz- oder Präsenzunterricht geben, sondern die Familien müssen selbst entscheiden können, ob sie ihr Kind in die Schule schicken. Prof. Dr. Hans-Heiner Kramer
 

Vielen Eltern, die ihre gefährdeten Kinder nun monatelang vor einer Ansteckung bewahren konnten, werde auf diese Weise „das Zepter aus der Hand genommen“, sagt Kai Rüenbrink, Sprecher des ABAHF.

Ob ein Risikokind am Präsenzunterricht teilnehme, hänge nicht zuletzt von den Vorkehrungen und Gegebenheiten in den Schulen ab, sagt Kramer. „Mein Apell: Schulen sollten dafür Sorge tragen, dass gefährdete Kinder bestmöglich geschützt sind, etwa durch Gewährleistung der Abstandsregeln oder Spuckschutz“, sagt Kramer.

Zur sicheren Teilhabe von chronisch kranken Kindern und deren Geschwistern am Unterricht sollte die Kultusministerkonferenz den Schulen verbindliche Vorgaben machen, etwa zur Ausweitung der Maßnahmen zur Verbesserung der Raumluft und zur Versorgung der Schüler mit Schutzmasken, so die Forderung der Institutionen.

Besserer Schutz für berufstätige Eltern kranker Kinder

In diesem Kontext wiederum müsse die Politik „konkrete Hilfe leisten“ für Familien, damit sich Eltern, die ihre chronisch kranken Kinder zuhause betreuen, keine Sorgen um ihren Job manchen müssen, bemerkt Kramer. „Eltern, die ihre Kinder zuhause betreuen, setzen möglicherweise ihren Job aufs Spiel“, erklärt Rüenbrink.

Insbesondere vor dem Hintergrund der sich aktuell ausbreitenden Mutationen auch in Deutschland müsse die Politik die Ängste dieser Eltern von Kindern mit angeborenen Herzfehlern oder anderen Erkrankungen ernst nehmen.

Jüngere Kinder ohne Impfperspektive

„Kinder, die schwer krank sind, und deren Familien befinden sich möglicherweise seit nunmehr einem Jahr in privater Quarantäne, um das Kind zu schützen – eine schreckliche Situation für die Familien“, sagt Kinderarzt Prof. Dr. Hans-Iko Huppertz, Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, im Gespräch mit Medscape

 
Kinder, die schwer krank sind, und deren Familien befinden sich möglicherweise seit nunmehr einem Jahr in privater Quarantäne, um das Kind zu schützen – eine schreckliche Situation für die Familien. Prof. Dr. Hans-Iko Huppertz
 

Der einzige Weg aus der Isolation sei die Impfung. „Wenn Kinder und Jugendliche, gerade chronisch kranke, nicht geimpft werden, ist ihre Teilhabe auf allen gesellschaftlichen Ebenen und auf nicht absehbare Zeit massiv beeinträchtigt“, sagt Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ).

Bis heute sei offen, ob das seitens der Bundesregierung in Aussicht gestellte Angebot einer COVID-19-Impfung bis zum Sommer auch für die bundesweit rund 13,5 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahre gelte, sagt Rüenbrink vom ABAHF. „Das ist ein Versprechen, das nicht haltbar ist.“ 

„Impfstoffe, die bereits ab dem Alter von 16 Jahren zugelassen sind, sollten sofort an alle Jugendlichen ab 16 mit schweren chronischen Erkrankungen verimpft werden“, fordert Fischbach. Die EMA hat den Biontech/Pfizer-Impfstoff ab 16 Jahren zugelassen. Für jüngere Kinder befinde sich ein Impfangebot noch in weiter Ferne, so Kramer. 

 
Impfstoffe, die bereits ab dem Alter von 16 Jahren zugelassen sind, sollten sofort an alle Jugendlichen ab 16 mit schweren chronischen Erkrankungen verimpft werden. Dr. Thomas Fischbach
 

Erste Impftest-Reihen mit Kindern laufen. So testet Biontech/Pfizer seinen Impfstoff seit Herbst 2020 auch bei 12- bis 16-Jährigen, und in Großbritannien laufen die ersten Tests mit dem AstraZeneca-Impfstoff bei 6- bis 17-Jährigen. Auch das US-Unternehmen Moderna suche nun Probanden für eine Kinder-Impfstudie, sagt Kramer. Bis 2024 hat die EMA den Herstellern Zeit gegeben, ihre Impfstoffe bei Kindern zu testen.

Aktuell, sagt Huppertz, raten alle Fachgesellschaften von einer Impfung von jüngeren Kindern außerhalb der Zulassung ab, da insbesondere die richtige Dosierung und die Schwere der Nebenwirkungen bei Kindern noch unklar sei. 

Kontaktpersonen müssen Impfung erhalten

„Angesichts dieser Situation sollten zumindest die Eltern dieser Kinder und Geschwister ab 16 Jahre geimpft werden“, sagt Huppertz. Durch die Impfung aller Kontaktpersonen entstehe für das betroffene Kind ein „Kokon“, eine Schutzhülle also. Eine Regelung zur Impfung von Kontaktpersonen von Schwangeren gebe es bereits – keine dagegen für Eltern und Betreuungspersonen chronisch kranker Kinder zu deren Schutz. 

 
Angesichts dieser Situation sollten zumindest die Eltern dieser Kinder und Geschwister ab 16 Jahre geimpft werden. Prof. Dr. Hans-Iko Huppertz
 

Eine Anpassung der aktuellen Corona-Impfverordnung entsprechend der Empfehlungen der Ständigen Impfkommission sei „unumgänglich“, schreiben die Experten in dem Positionspapier. Denn auch ärztliche Bescheinigungen werden nicht in allen Impfzentren anerkannt.

Im Sommer rechnet Huppertz mit ersten Impfstoff-Zulassungen für Unter-16-Jährige. „Es gibt also Hoffnung. Aber mindestens ein halbes Jahr lang müssen die Familien schwer kranker Kinder noch warten.“

Impfstoff-Tests mit jüngeren Kindern sollten angesichts steigender Impfquoten möglichst rasch auf den Weg gebracht werden, denn werde es mit der Zeit immer schwieriger, ein Gebiet mit hohen Fallzahlen ausfindig zu machen, um verlässliche Daten zur Impfwirksamkeit zu erhalten, sagt Huppertz.

 

Kommentar

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