PD Dr. Georgia Schilling analysiert mit Prof. Dr. Dirk Arnold: die neuen Therapie-Möglichkeiten für Ösophagus-, Magen- sowie Kolorektal-Karzinome und wie man die Behandlung durch Bluttests künftig steuert.
Transkript des Videos von PD Dr. Georgia Schilling und Prof. Dr. Dirk Arnold:
Sehr geehrte Damen und Herren,
mein Name ist Georgia Schilling. Ich bin leitende Oberärztin im Asklepios-Tumorzentrum in Hamburg. Ich freue mich sehr, nun schon in bewährter Tradition wieder unseren Medizinischen Vorstand im Tumorzentrum interviewen zu dürfen: Prof. Dr. Dirk Arnold. Er ist auch mein Chef in Hamburg.
Zunächst mal ganz herzlichen Dank, Dirk, dass Du auch wieder dabei bist. Erste Frage an Dich als ausgewiesenen GI-Experten: Was waren Deine 3 persönlichen Highlights auf dem diesjährigen ASCO-Kongress im Bereich der gastrointestinalen Tumoren?
Arnold: Wir haben 3 große Themenkomplexe. Zum einen die wirklich neuen Therapiestandards für Plattenepithelkarzinome des Ösophagus, dazu sind große Studien herausgekommen. Das sind sehr klare und eindeutige Ergebnisse.
2. Thema ist das Gebiet der perioperativen Therapie beim Magen- und Ösophagus-Karzinom. Hier werde die Chancen des Patienten auf eine Heilung verbessert.
Beim metastasierten Kolonkarzinom gibt es 2 große Punkte, und zwar die Frage der Chemotherapie-Intensivierung und natürlich die Integration der Immuntherapie.
Plattenepithel-Karzinom des Ösophagus
Schilling: Beginnen wir mit dem Plattenepithel-Karzinom des Ösophagus und der Immuntherapie. Wird das der neue Standard? Brauchen wir noch eine Chemotherapie?
Arnold: Ja, wir brauchen mit ziemlicher Sicherheit eine Chemotherapie, aber wir brauchen auf jeden Fall, auch wenn wir eine Chemotherapie verabreichen, eine Immuntherapie. Die Daten der beiden Studien, die vorgestellt worden sind, gehen sehr eindeutig in diese Richtung. Ich werde hier über 2 Studien, und zwar eine aus China [1] und eine globale Studie [1] berichten, in die mehrheitlich asiatische Patienten eingeschlossen waren.
In diesen beiden randomisierten Studien zum metastasierten oder fortgeschrittenen Plattenepithelkarzinom des Ösophagus sind mehr als 1.500 Patienten untersucht worden.
Die chinesische Studie hat den PD1-Inhibitor Camrelizumab untersucht, der wahrscheinlich vorläufig nur in China zugelassen wird. Aber es geht um das Therapieprinzip Checkpoint-Inhibition in Kombination mit Chemotherapie versus Chemotherapie [1].
Die globale Studie [2] hatte 3 Studienarme:
Chemotherapie allein
Chemotherapie plus Checkpoint-Inhibitor (Nivolumab)
Checkpoint-Inhibitor plus CTLA4-Inhibitor (Nivolumab plus Ipilimumab)
Schilling: Der Nivolumab-plus-Ipilimumab-Arm hat deutlich besser abgeschnitten als der Chemotherapie-Arm und der Nivolumab-plus-Chemotherapie-Arm. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, welchen Patienten man eine alleinige Immuntherapie anbieten soll?
Arnold: Das ist sicher noch etwas schwierig, wie auch die ganze Biomarker-Analyse dieser Studien schwierig ist. Es sieht so aus, dass auf jeden Fall PD-L1 exprimiert werden muss. Die Patienten ohne PD-L1-Expression scheinen in der Gesamtschau der Daten keinen Nutzen zu haben.
Wir haben als Standard, als aktivstes Protokoll, sicher die Kombination einer der Standard-Chemotherapien mit einem Checkpoint-Inhibitor. Die Chemotherapien waren allerdings in den beiden Studien etwas unterschiedlich.
Zur Frage nach den beiden Immuntherapeutika in Kombination versus Chemotherapie – ja, ersteres war besser, aber es war nicht ganz so gut wie die Kombination aus Chemotherapie plus Checkpoint-Inhibitor.
Fazit
Auf jeden Fall ist eine Chemotherapie-freie Kombination besser. Die Hazard-Ratio versus Chemotherapie für das Gesamtüberleben beträgt 0,64. Das ist eine Mortalitätsreduktion von 36%. Damit ist dies eine Option für Patienten, die keine Chemotherapie bekommen können. Davon gibt es beim Plattenepithelkarzinom des Ösophagus doch einige.
Schilling: Stört Dich der hohe Anteil von Asiaten in den Studien, er war ja auch in der globalen Studie sehr hoch?
Arnold: Der Anteil betrug 70% in der globalen Studie. Aber die Analyse der Daten der Asiaten im Vergleich zu denen der Europäer im Forest Plot haben keinen Unterschied gezeigt. Es waren sehr viele chinesische und koreanische und wenige japanische Patienten.
Bei metastasierten gastroösophagealen Tumoren sind die Unterschiede in Art und Behandlung der Tumoren nicht ganz so groß wie bei den Primärtumoren. Bei den metastasierten Tumoren zählen Histologie und Ethnizität nur untergeordnet.
Tumore des oberen Gastrointestinaltrakts
Schilling: Kommen wir zum 2. Themenbereich, den Tumoren des oberen Gastrointestinaltrakts. Es geht um die Neo-AEGIS-Studie [3]. Diese Studie fand ich sehr spannend. Könntest Du sie für uns kurz zusammenfassen?
Arnold: Das ist eine sehr pragmatische, irische Studie, die sich mit der Frage beschäftigt, wie wir Patienten mit einem Plattenepithelkarzinom bzw. Adenokarzinom des Ösophagus behandeln sollen, wenn dies ein Übergangskarzinom ist. Sind das Patienten, die eher eine perioperative Chemotherapie (MAGIC-Schema) oder eher eine Radiochemotherapie (CROSS-Schema) erhalten sollen?
Die Kollegen haben die Patienten 1:1 randomisiert und wollten mit dieser pragmatischen großen Studie loslegen. Dann änderte sich im Lauf der Studie der Standard der Chemotherapie. Sie hatten mit einer Variation des MAGIC-Protokolls begonnen. Dann kamen die Daten der FLOT-Studie, die im Vergleich zum MAGIC-Protokoll ein deutlich besseres Überleben mit Docetaxel, Fluorouracil, Leucovorin und Oxaliplatin zeigte. Daraufhin wurde das Design geändert und damit gab es eine gewisse Heterogenität im Chemotherapie-Arm.
Unterm Strich ging das Ganze so aus, wie man fast vermuten musste, nämlich komplett unentschieden. Die Überlebenswahrscheinlichkeit war sowohl mit der Radiochemotherapie wie auch mit der perioperativen Chemotherapie gut. Aus den Subgruppen ergaben sich auch keine Hinweise auf Patienten, die von dem einen oder anderen Vorgehen besonders profitieren würden.
Das Schwierige in der Interpretation dieser Studie ist, dass sich diese Standards natürlich auch weiter ändern werden. Ich habe schon auf den während der Studie veränderten Standard in der Chemotherapie hingewiesen.
Jetzt haben wir auch seit letztem Jahr eine mögliche, sehr bald auch in der Klinik befindliche, Änderung des Standards der CROSS-Studie. Da hat die adjuvante Immuntherapie mit Nivolumab bei Patienten nach absolvierter Radiochemotherapie den therapeutischen Index für diesen Arm nochmal verbessert.
Fazit
Die Studie hat also pragmatisch begonnen mit CROSS- versus MAGIC-Protokoll. Heutzutage müsste die Fragestellung aber lauten CROSS-Protokoll gefolgt von Immuntherapie versus MAGIC-Protokoll verbessert im Sinne von FLOT.
Große Unterschiede werden sich aber vermutlich damit auch nicht zeigen. Es zeigt jedoch, wie schwierig es ist, diese strategischen Studien durchzuführen. In allen Behandlungsarmen haben die Patienten jedoch gut abgeschnitten und es gibt keinen klaren Gewinner.
Die Entscheidung wird weiter in den Tumorboards aufgrund von Lokalisation, Toxizität, Patientenpräferenz zu treffen sein.
Schilling: Spielt die Tumorgröße eine Rolle für die Entscheidung?
Arnold: Ja, die Tumorgröße mag eine Rolle spielen, aber auch das ist immer schwer in die eine oder andere Richtung zu interpretieren. Möglicherweise ist der Lymphknoten-Status relevanter, je distaler, desto weniger Strahlentherapie bzw. je lokaler das Tumorgeschehen ist, desto mehr Strahlentherapie. Aber auch das ist eher gefühlte Wahrheit als evidenzbasiert.
Tumore des unteren Magen-Darm-Traktes
Schilling: Wäre ja auch langweilig, wenn wir in den Tumorboards nichts mehr zu diskutieren hätten. Dann kommen wir noch zu den beiden Studien aus dem Bereich des unteren Magen-Darm-Trakts und zur Rolle der Immuntherapie.
Arnold: Die Erstlinientherapie mit Pembrolizumab beim Kolorektal-Karzinom haben wir seit letztem Jahr in der Praxis, weil wir letztes Jahr beim ASCO-Kongress gesehen haben, dass das krankheitsfreie Überleben verbessert ist, wenn Pembrolizumab bei Patienten mit MSI-H/Mismatch-Repair-defizienten Tumoren versus Chemotherapie untersucht wird. Die Hazard-Ratio war deutlich zu Gunsten der Immuntherapie.
Die Studiengruppe hat jetzt über das Gesamtüberleben berichtet [4]. Das Gesamtüberleben wurde verbessert, und zwar relevant mit einer Hazard-Ratio von 0,74. Aber der Unterschied war nicht statistisch signifikant, was für mich eher am Design der Studie als am wirklichen Ergebnis gelegen hat, weil das ein koprimärer Endpunkt gewesen ist, der zur gleichen Zeit wie das PFS untersucht wird. Da halbiert sich das Konfidenzintervall und damit ist die statistische Signifikanz verloren gegangen.
Aber es ist immer noch ein deutlicher Trend zugunsten eines besseren Gesamtüberlebens. Das ist wichtig, weil in dieser Studie eins stattgefunden hat, was fast logisch war, nämlich Cross-Over: 60% der Patienten, die primär mit Chemotherapie behandelt worden sind, haben im weiteren Verlauf dann auch einen Checkpoint-Inhibitor, zumeist in der Zweitlinien-Therapie erhalten. Das ist eine extrem hohe Cross-Over-Rate innerhalb und außerhalb der Studie. Das nivelliert die Eindeutigkeit des Ergebnisses ein bisschen.
Fazit
Auf der anderen Seite gibt es eine klare Schlussfolgerung: Es ist auf jeden Fall sinnvoll, mit einer Erstlinien-Immuntherapie zu beginnen, es bleibt immer noch eine relevante Verbesserung der Überlebenswahrscheinlichkeit (Hazard-Ratio 0,74), auch wenn man hinterher einen hohen Cross-Over hat.
Die einzige Frage ist jetzt natürlich, ob Pembrolizumab der Standard für längere Zeit bleiben wird. Ist diese exzellent verträgliche Mono-Immuntherapie wirklich gut genug oder wird schon ganz bald die Immun-Kombination auch beim Kolorektal-Karzinom in die Praxis einziehen.
Die Studien laufen, haben die Rekrutierung beendet und weitere Daten und möglicherweise auch schon eine Änderung des Zulassungsstatus wird es sicher in diesem Herbst geben.
Therapiesteuerung mit der zellfreien Tumor-DNA
Schilling: Dann noch zum letzten Punkt…
Arnold: Es gibt einen Gewinner in den Nachrichten zu gastrointestinalen Tumoren, was sich besonders beim Kolorektal-Karzinom gezeigt hat: Der Nachweis von Mutationen in der zellfreien Tumor-DNA. Das war auf dem ASCO in unendlich vielen kleineren Abstracts, in Oral Presentations, in der Poster-Session zu hören und zu sehen.
Wirklich faszinierend ist für mich Folgendes: Wir können über die zellfreie Tumor-DNA nicht nur die Prognose der Patienten vorhersagen, nachdem sie operiert worden sind (Prognose mit minimaler Resterkrankung oder nicht).
Wir können auch zunehmend Mutationen detektieren, um sie prädiktiv einzusetzen, wenn Patienten rezidivieren. Die neueste Entwicklung ist, dass wir eine Therapie-Steuerung oder ein Monitoring während der laufenden Behandlung über die zellfreie Tumor-DNA durchführen können.
Das ist exemplarisch am besten gelungen mi den EGF-Rezeptor-Antikörpern, bei denen während laufender Therapie eine molekulare Analyse durchgeführt worden ist. Man kann feststellen, ob und gegebenenfalls welche Mutationen unter laufender Therapie mit einem Anti-EGFR-Antikörper auftreten und wie der Mutationsstatus nach abgeschlossener Therapie oder einer Therapiepause ist. Man kann besser entscheiden, ob eine weitere Anti-EGFR-Antikörpertherapie durchgeführt werden soll und welche Therapie das dann ist.
Fazit
Die Therapie-Steuerung mit der zellfreien Tumor-DNA ist ganz groß im Kommen. Da hat man unendlich viel gelernt, nicht nur für diesen ganz praktischen Einsatz, sondern auch um zu analysieren, wie klonal diese Mutationen sind. Ist es ein bestehender Klon, der dann expandiert, oder treten während der Behandlung neue Klone auf? Das ist jetzt exemplarisch für die EGFR gezeigt worden.
Das gleiche Diagnostik- und Therapie-Prinzip wird für viele Tumorentitäten und auch möglicherweise für andere molekulare Therapien oder vielleicht sogar für die Chemotherapie relativ bald verfügbar sein.
Schilling: Wann wird dies eine Standard-Diagnostik sein? Und wie sieht es mit der Verfügbarkeit aus?
Arnold: Das wird rasch gehen. Den Einsatz der ctDNA-Bestimmung untersuchen wir in Deutschland z. B. in der CIRCULATE-Studie. Dazu werden Patienten nach der Operation eines Kolorektal-Karzinoms auf ctDNA getestet. Das wird schon relativ bald in die Praxis, in die Klinik-Routine eingehen.
Es sind blutbasierte molekulare Tests, die auch schon kommerzialisiert werden. Man kann sie kaufen, es gibt verschiedene Anbieter, die gerade in den USA sehr stark auf den Markt drängen. Kommerzialisierung und damit auch Verfügbarkeit dieser Tests werden in den nächsten Monaten deutlich zunehmen.
Es ist ja auch die smarteste Tumordiagnostik, die wir haben können, keine Biopsie und trotzdem auf den Punkt zu wissen, wie das molekulare Makeup der Tumorerkrankung gerade ist. Das ist faszinierend.
Schilling: Vielen Dank, dass Du Deine Highlights vorgestellt hast. Letzte Frage, was ändert sich jetzt für Dich nach dem ASCO-Kongress?
Arnold: Die neuen Standards beim Ösophagus-Karzinom sind unbestritten. Ganz sicher gibt es auch eine Stärkung der Immuntherapie in der metastasierten Situation beim Magen-Karzinom und eindeutig ist auch der klare Standard der Erstlinien-Immuntherapie beim Kolorektal-Karzinom. Das sind die 3 großen medikamentösen therapiebedingten Änderungen, die wir in unseren Algorithmen künftig haben werden.
Medscape © 2021
Diesen Artikel so zitieren: Onkologie im Gespräch: Analyse der Game-Changer für gastrointestinale Tumore – plus Startschuss für „smarte Therapiesteuerung“ - Medscape - 18. Jun 2021.
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