Trotz des Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetzes (AMNOG) steigen in Deutschland die Medikamentenpreise. Was hat die Nutzenbewertung in der Onkologie gebracht? Muss beim AMNOG nachgebessert werden?
Auf der virtuellen Frühjahrstagung „Onkologie und Ökonomie“ der deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) diskutierten Prof. Dr. Bernhard Wörmann, medizinischer Leiter der DGHO, Prof. Dr. Josef Hecken, Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), und Han Steutel, Präsident des Verbandes forschender Pharma-Unternehmen (vfa), den aktuellen Stand des AMNOG [1].
Seit Anfang 2011 werden alle neu zugelassenen Arzneimittel in Deutschland einer frühen Nutzenbewertung unterzogen. Durch diese habe die Onkologie eine Vielzahl von neuen Arzneimitteln erhalten: „Wir können inzwischen mit einem unglaublichen Armentarium arbeiten“, sagte Wörmann.
AMNOG – ein Modell ist zum Standard geworden
Dass das AMNOG seinen Zweck erfüllt, machte Hecken deutlich:
Bei 1% der Medikamente in den Nutzenbewertungen wurde ein erheblicher Zusatznutzen festgestellt,
bei 21% ein beträchtlicher Zusatznutzen,
bei 19% war der Nutzen „nicht quantifizierbar“,
einen geringen Zusatznutzen erhielten 16% der Mittel,
und bei 43% war der Zusatznutzen nicht belegt.
„57% der Bewertungen erfolgen mit positivem Zusatznutzen – das ist besser als der internationale Durchschnitt“, erinnerte Hecken. Gleichzeitig ermögliche das AMNOG Einsparungen von 3,2 Milliarden Euro pro Jahr mit wachsender Tendenz.
„Das AMNOG behindert auch nicht die Markteinführung von Medikamenten“, stellte Hecken klar. So liegt die mediane Marktzugangsverzögerung in Deutschland bei 1,7 Monaten, in England dagegen bei 9,6 Monaten, in Spanien bei 11,6 Monaten, in Italien bei 11,8 Monaten und in Frankreich bei 16,9 Monaten.
Hecken wies auch darauf hin, dass das AMNOG einen raschen Zugang zu Orphan Drugs ermögliche: In Deutschland liegt die mediane Marktzugangsverzögerung von Orphan Drugs bei 1,3 Monaten, in Italien bei 11,7 Monaten, in England bei 13 Monaten, in Spanien bei 14,6 Monaten und in Frankreich bei 18,8 Monaten.
Die Ergebnisse der Nutzenbewertungen im Vergleich (Stand 31.1.2021) zeigen, dass ein Viertel aller gültigen Beschlüsse Onkologika betreffen; wobei drei Viertel der Onkologika eine positive Bewertung erhalten.
Mehr als 100 neue Onkologika für 40 Krebsarten
Auch Steutel unterstrich die Bedeutung des AMNOG für die Onkologie. Mehr als 100 neue Wirkstoffe stehen in Deutschland seit 2009 für neue Einsatzmöglichkeiten für 40 verschiedene Krebsarten zur Verfügung. Das ermögliche geeignete Kombinationen und ein Ausweichen auf andere Therapie bei Resistenzentwicklung der Krebszellen.
Nach Steutel schneiden Onkologika beim Zusatznutzen relativ gut ab: In rund 80% der Fälle können sie ihren Zusatznutzen zeigen. „Viele dieser Onkologika sind inzwischen der neue Therapiestandard“, so Steutel.
Steutels Einschätzung nach ist das AMNOG ein „lückenloses Instrument zur Bewertung, Preisregulierung und Information“. So steige die Anzahl der Nutzenbewertungsverfahren von Jahr zu Jahr mit einem Rekord im Jahr 2020. Das AMNOG spiegele die Innovationskraft der Industrie wider und sei inzwischen auch im Arztinformationssystem angekommen.
Onkologie hat durch die Nutzenbewertung „viel gewonnen“
Wörmann hob hervor, dass die Onkologie durch die Nutzenbewertung, die ein sehr strukturiertes Verfahren sei, „viel gewonnen“ habe – an Innovationen, an Transparenz, an Informationen und auch an zusätzlicher Evidenz für die Leitlinien.
Die frühe Nutzenbewertung habe nicht nur eine raschen Marktzugang zu Innovationen ermöglicht, sondern auch die Transparenz erhöht. Zusätzlich zu den vorhandenen Publikationen zu Studien bekomme die DGHO mehr Daten über neue Arzneimittel, die von den Herstellern im Rahmen der Nutzenbewertung erhoben werden. „Für uns als Kliniker sind das sehr wertvolle Informationen zur Einordnung neuer Arzneimittel“, sagte Wörmann.
Auch die Kooperation der Fachgesellschaften bei gemeinsamen Stellungnahmen zu den Verfahren hob er hervor. „Das ist keine Formalität, denn es bedeutet, dass die Themen und vor allem auch unsere Wertungen vorher ausführlich besprochen werden – das ist ein wertvoller, zusätzlicher Punkt.“
Als Vorteil wertet er auch die frühe Einbindung der Fachgesellschaften in das Verfahren. Seit März 2020 bekommen diese vor Beginn der G-BA-Beratungen einen Fragebogen, in dem die zweckmäßige Vergleichstherapie und die Standardversorgung erhoben wird.
Über die Plattform Onkopedia finden die Ergebnisse der Nutzenbewertung auch Eingang in die Leitlinien zur medikamentösen Therapie einzelner Entitäten. Neben Informationen zu den Studienergebnissen, zu Evidenzlevel und klinischem Nutzen werden dort auch die Daten der frühen Nutzenbewertung des G-BA aufgeführt.
Nutzenbewertung – was kann man noch besser machen?
Verbesserungsbedarf sieht Wörmann gleichwohl. Ein „Ärgernis“ sei, dass die Zahl der zusätzlichen Anfragen an den pharmazeutischen Unternehmer oder auch an das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zur weiteren Bewertung von Daten nach den Anhörungen „in den letzten Jahren erheblich zugenommen hat“.
In den ersten Verfahren seien relativ selten zusätzliche Daten angefragt worden, seit etwa 2016 sei das aber bei etwa der Hälfte der Verfahren erforderlich. Entweder reichten die Daten nicht aus, die Bewertungen des IQWiG hätten nicht alle Daten berücksichtigt, oder es habe neue Erkenntnisse z.B. zur zweckmäßigen Vergleichstherapie oder zur Subgruppenbildungen gegeben.
„Grundsätzlich ist es natürlich positiv, wenn darauf reagiert wird und diese Anhörungen dann auch umgesetzt werden. Der Nachteil für die Fachgesellschaften ist, dass der enge Zeitrahmen es dann nicht erlaubt, zu den dann noch gelieferten Daten Stellung zu nehmen“, sagt Wörmann. Das führt dann dazu, dass die Kommentare der Fachgesellschaften außen vor bleiben. „Und das kann nicht in unserem Interesse sein“, betont er.
Verbesserungswürdig ist auch die Berücksichtigung von Morbiditätsfaktoren. Zwar habe sich einiges getan, doch „die Erfassung der Lebensqualität ist noch nicht da, wo sie sein müsste“. Es gebe zwar viele Daten zur Lebensqualität, aber viele seien nicht engmaschig genug erhoben und nicht über die Krankheitsprogression hinaus. „Da besteht noch Optimierungsbedarf.“
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Diesen Artikel so zitieren: Hohe Medikamentenpreise trotz AMNOG: Was hat die Nutzenbewertung in der Onkologie gebracht? - Medscape - 17. Feb 2021.
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