Das Placebo-Problem der COVID-19-Impfstoff-Studien: Sollten jetzt alle Probanden vorrangig die echte Impfung erhalten?

Anke Brodmerkel

Interessenkonflikte

17. Februar 2021

Sollten Probanden, die in den Zulassungsstudien der inzwischen verfügbaren Impfstoffe gegen COVID-19 nur Placebos erhalten haben, nun so schnell wie möglich die echte Impfung bekommen? Mit dem Für und Wider dieser Fragestellung hat sich jetzt ein Team renommierter Bioethiker aus Kanada und den USA in The Lancet auseinandergesetzt [1].

Die Probanden selbst fordern, jetzt vorrangig geimpft zu werden

Prof. Dr. Phoebe Friesen von der McGill University in Montreal, Prof. Dr. Arthur Caplan von der New York University und Prof. Dr. Jennifer Miller von der Yale University in New Haven beziehen sich in ihrem Artikel unter anderem auf einen offenen Brief von 148 Teilnehmern der Impfstoffstudien.

Darin fordern die Unterzeichnenden, dass diejenigen, die in den Placebo-Gruppen gewesen seien, jetzt vorrangig Zugang zu den zugelassenen Impfstoffen erhalten sollten. Um ihr Ansinnen zu untermauern, zitieren die Probanden unter anderem den „Code of Medical Ethics“ der American Medical Association (AMA). Dieser hebt die Wichtigkeit hervor, die Zeit, die Studienteilnehmer in einer Placebo-Gruppe verbringen, zu minimieren.

Der Impfstoff ist knapp – und ethische Fragen sind dadurch komplex

Der Leiter des hiesigen Arbeitskreises medizinischer Ethikkommissionen, Prof. Dr. Joerg Hasford vom Institut für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie der Ludwig-Maximilians-Universität München, kann die Forderung der Studienteilnehmer nachvollziehen. „Es ist nicht unüblich, den Patienten der Placebo-Gruppe die geprüfte Therapie anzubieten, sobald sich deren Wirksamkeit gezeigt hat“, sagt er im Gespräch mit Medscape. Und das sei bei den zugelassenen COVID-19-Impfstoffen inzwischen der Fall.

 
Es ist nicht unüblich, den Patienten der Placebo-Gruppe die geprüfte Therapie anzubieten, sobald sich deren Wirksamkeit gezeigt hat. Prof. Dr. Joerg Hasford
 

Bei den jetzt anlaufenden klinischen Prüfungen mit noch nicht zugelassenen Impfstoffen gegen SARS-CoV-2 sei die Lage hingegen komplex: „Wäre genug Impfstoff da, wären Placebo-Gruppen ethisch nicht mehr vertretbar“, sagt Hasford. „Allerdings stehen wir hierzulande leider momentan vor dem Problem, dass die zugelassenen Vakzinen gegen COVID-19 nur in sehr begrenzten Mengen zur Verfügung stehen und auch Nicht-Studienteilnehmer in Hochrisikogruppen daher viel länger als ursprünglich geplant auf ihre reguläre Impfung warten müssen“, bemängelt der Medizinethiker.

In Deutschland sind erst rund 1,7 Millionen Menschen vollständig geimpft

Solange das der Fall sei, könne man diese Menschen noch in Placebo-kontrollierte Studien aufnehmen, weil man ihnen keine allgemein verfügbare wirksame Impfung vorenthalte. „Allerdings müsste man auf diejenigen Probanden, welche die Kriterien erfüllen, um die Impfung zu erhalten, aktiv zugehen und ihnen die Impfung anbieten, sobald ein zugelassener COVID-19-Impfstoff für diese Teilnehmer zur Verfügung steht“, sagt Hasford. „Alles andere wäre ethisch inakzeptabel.“ Genau so habe man das seines Wissens auch für die Studienteilnehmer in Deutschland vereinbart.

 
Allerdings stehen wir hierzulande leider momentan vor dem Problem, dass die zugelassenen Vakzine gegen COVID-19 nur in sehr begrenzten Mengen zur Verfügung stehen. Prof. Dr. Joerg Hasford
 

Zwar sind in der Europäischen Union inzwischen 3 Corona-Impfstoffe zugelassen und die Zulassung eines 4. Impfstoffs steht womöglich kurz bevor. Doch die bekannten Produktions- und Lieferengpässe haben dazu geführt, dass in Deutschland nach Angaben des Robert Koch-Instituts derzeit gerade mal rund 1,7 Millionen Menschen vollständig geimpft sind (Stand: 15. Februar 2021). Selbst Über-80-Jährige müssen teilweise noch bis zum April auf ihre erste Impfung warten. Die Hoffnung ruht somit auch auf weiteren Vakzinen gegen COVID-19. Weltweit laufen derzeit Phase-3-Studien mit 11 weiteren Impfstoffkandidaten.

Eine Messlatte für neue Impfstoffkandidaten ist bereits vorhanden

„Sobald COVID-19-Impfstoffe allgemein zur Verfügung stehen, wird es ethisch nicht länger gerechtfertigt sein, womöglich lebensrettende Wirkstoffe weiterhin mit einem Placebo zu vergleichen“, sagt Hasford. Zwar seien Vergleichsstudien mit einem der bereits zugelassenen Impfstoffe wegen der mangelnden Verfügbarkeit derzeit ebenfalls nicht möglich, räumt der Wissenschaftler ein. „Aber wir haben jetzt insbesondere mit den Impfstoffen von BioNTech/Pfizer und Moderna, die eine Erfolgsrate von deutlich mehr als 90% aufweisen, eine Art Messlatte“, sagt Hasford.

 
Es wird sehr schwierig sein, in Zukunft noch Placebo-kontrollierte Studien zu COVID-19-Impfstoffen zu starten oder für eine längere Zeit durchzuführen. Prof. Dr. Joerg Hasford
 

Weitere Impfstoffkandidaten müssten im Prinzip nur noch zeigen, dass sie bei vergleichbaren Teilnehmergruppen ähnlich gute Erfolgsraten erzielen. Von daher seien künftige Untersuchungen mit nur einem Studienarm für ihn durchaus eine akzeptable Lösung. „Ich gehe jedenfalls davon aus, dass es sehr schwierig sein wird, in Zukunft noch Placebo-kontrollierte Studien zu COVID-19-Impfstoffen zu starten oder für eine längere Zeit durchzuführen“, sagt Hasford. Das würden die Ethikkommissionen aufgrund der fehlenden klinischen Equipoise vermutlich nicht genehmigen.

Nur bei klinischer Equipoise gelten Vergleichsstudien als ethisch vertretbar

Auch das Team um Friesen greift diesen Aspekt in seinem Lancet-Artikel auf. Unter dem Begriff der klinischen Equipoise versteht man die Ungewissheit darüber, ob der zu untersuchende Wirkstoff tatsächlich besser als ein Placebo oder ein 2. Wirkstoff ist, mit dem er verglichen wird. Denn nur dann gelten Placebo-kontrollierte Untersuchungen oder andere Vergleichsstudien als ethisch akzeptabel.

Das Konzept der klinischen Equipoise wurde entwickelt, um den Konflikt zu lösen, mit dem klinische Forscher konfrontiert sind, die sowohl Verpflichtungen gegenüber ihren Patienten als auch gegenüber der Forschung haben.

Bei Equipoise, wenn also unklar ist, ob die Test- oder die Kontrollbehandlung besser ist, gilt die zufällige Zuordnung zu einer der beiden Studiengruppen im Allgemeinen als gerecht.

Sobald die Equipoise nicht mehr vorhanden ist, gilt die Fortsetzung einer Studie ohne Änderung der Behandlungszuweisung jedoch als unfair. Alle Teilnehmer sollten dann die bessere Behandlungsoption erhalten.

Im Hinblick auf einige wichtige Fragen herrscht noch immer Equipoise

Der „Code of Medical Ethics“ der AMA enthalte zudem einen wichtigen Vorbehalt, schreiben Friesen und ihre Kollegen: Die Zeit, die Probanden in der Placebo-Gruppe verbringen, solle minimiert werden, sofern die wissenschaftliche Integrität nicht beeinträchtigt werde. „Als die COVID-19-Impfstoffstudien im Jahr 2020 begannen, herrschte zweifelsohne ein Zustand der klinischen Equipoise“, schreiben die Bioethiker. Damals sei es ethisch zulässig gewesen, die Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip einer Placebo- oder Interventionsgruppe zuzuweisen.

Sehr viel schwerer sei die Frage zu beantworten, ob man jetzt, da Impfstoffe zugelassen seien, sich immer noch in einem Zustand der klinischen Equipoise befinde. Sie bestehe nicht mehr im Hinblick auf die kurzfristige Verhinderung von COVID-19-Symptomen, schreibt das Team.

In Bezug auf andere wichtige Fragen bleibe Equipoise bestehen: „Es gibt keine soliden Daten über die Infektiosität der Geimpften, darüber, wie lange der Impfstoff vor COVID-19 schützt, darüber, wie sich dieser Schutz in verschiedenen Populationen unterscheiden könnte, oder über das langfristige Sicherheitsprofil des Impfstoffs.“

Die WHO hält Placebo-kontrollierte Studien weiterhin für erforderlich

Viele Entwickler der Impfstoffe dürften das ähnlich sehen. Schon im November, als bereits bekannt war, welch überraschend gute Ergebnisse die Vakzine von BioNTech/Pfizer lieferte, hatte sich der Vorsitzende und CEO des US-Konzerns Pfizer, Dr. Albert Bourla, ebenfalls in einem offenen Brief an die Teilnehmer der laufenden Impfstoffstudie gewandt. Die gemeinsame Arbeit sei noch nicht beendet, denn die Studie nehme weiterhin Patienten auf und werde wie geplant fortgesetzt, um Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit des Studienimpfstoffs zu sammeln, schrieb er damals. Bislang ist nichts Gegenteiliges an die Öffentlichkeit gelangt. Auch der deutsche Medizinethiker Hasford sagt, er wisse nicht, ob alle Probanden die Impfung inzwischen erhalten haben oder nicht.

Die WHO betonte in einem im Januar im New England Journal of Medicine (NEJM) veröffentlichten Artikel ebenfalls, dass Placebo-kontrollierte Impfstoffstudien weiterhin erforderlich seien [2]. Die Expertengruppe argumentierte unter anderem damit, dass man noch nicht genug über die Impfstoffe wisse und dass der Nutzen für die Gesellschaft insgesamt größer sei, wenn derzeit noch keine Entblindung der Studien erfolge.

Der langfristige Nutzen lässt sich auch mit anderen Ansätzen ermitteln

Hasford hält die Argumentation der WHO zumindest hierzulande – gerade auch mit Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands – allerdings für „absolut inakzeptabel“. Der Nutzen für die Gesellschaft dürfe nicht höher bewertet werden als das Wohlergehen des einzelnen Menschen, sagt er. So stehe es auch in der aktuellen Version der Deklaration von Helsinki, einem international anerkannten Leitdokument für die Ethik in der medizinischen Forschung. „Und insbesondere für Mitglieder der Risikogruppen sind die Gefahren weiterer Placebo-kontrollierter Testungen bei einer solch tödlichen Erkrankung wie COVID-19 schlicht zu hoch“, betont Hasford.

 
Gerade für die langfristige Sicherheit und Effektivität der Impfstoffe braucht es keine Placebo-kontrollierten Studien mehr. Prof. Dr. Joerg Hasford
 

Da in Ländern wie den USA, die eine andere kulturelle Prägung haben, das Gesamtwohl vielleicht mehr im Vordergrund stehe als hierzulande, hätten die Prüfärzte dort womöglich eine etwas größere Hemmschwelle, Studien frühzeitig zu entblinden, ergänzt der Wissenschaftler. „Gerade für die langfristige Sicherheit und Effektivität der Impfstoffe braucht es aber keine Placebo-kontrollierten Studien mehr“, sagt Hasford. Dafür gebe es alternative Ansätze.

Werden Placebo-kontrollierte Studien zum lebensgefährlichen Experiment?

Immerhin haben alle Studienteilnehmer das Recht, eine Studie jederzeit zu verlassen. Spätestens, wenn die Probanden nach den geltenden Regeln selbst mit der Impfung an der Reihe wären, dürften das vermutlich auch viele von ihnen tun. Glaubt man den Worten der Bundeskanzlerin, könnte dieser Zeitpunkt bereits im kommenden September erreicht sein. „Wer danach noch Placebo-kontrollierte COVID-19-Imststoffstudien starten oder fortführen will“, sagt Hasford, „betreibt ein lebensgefährliches Experiment.“

 

Kommentar

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