Sich geistig fit halten, um Demenz vorzubeugen – das wird in der Öffentlichkeit und auch in Fachkreisen immer wieder propagiert. Aber gibt es wirklich einen Zusammenhang zwischen der Teilnahme oder Nicht-Teilnahme an anregenden Tätigkeiten und dem späteren Entstehen einer Demenz?
Eine neue Studie im Lancet Public Health mit 850.000 Teilnehmerinnen bejaht das zwar für eine gewisse Altersgruppe [1]. Aber: Die Kausalität könnte auch genau umgekehrt sein. Nicht die Passivität verursacht die Demenz. Sondern die Demenz führt, lange vor ihrer Diagnose, dazu, dass die Betroffenen passiver sind.
„Allerdings lässt sich das nur aus dieser Studie auch nicht ableiten“, sagt Dr. Jochen René Thyrian, Leiter der Gruppe Interventionelle Versorgungsforschung am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Greifswald und Vorstandsmitglied der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, gegenüber Medscape: „Dafür sind wichtige Parameter zu ungenau erfasst.“
Ein deutlicher Effekt zeigte sich nur innerhalb der ersten 4 Jahre
Die prospektive Studie von Dr. Sarah Floud und ihren Kollegen unter Leitung der Universität Oxford beruht auf Daten von Frauen, die in Großbritannien zwischen 1997 und 1999 zum Brustkrebs-Screening eingeladen wurden. Von 2001 bis 2003 wurden sie zusätzlich befragt, ob sie an Kursen für Erwachsenenbildung, Kunst, Handarbeit oder Musik teilnehmen oder sich freiwillig engagieren. Der Altersdurchschnitt betrug damals 60 Jahre. 2006 bis 2009 folgten Angaben dazu, ob sie täglich lesen.
Dies wurde in Verhältnis gesetzt zu späteren Krankenhausaufenthalten der Teilnehmerinnen mit Erwähnung einer Demenz, wobei die erste Erwähnung das primäre Outcome war. Daraus berechneten die Forscher ein relatives Risiko (RR) für eine Demenz 0 bis 4, 5 bis 9 oder 10 und mehr Jahre nach Studienbeginn. Andere Faktoren wie Berufstätigkeit, Einkommen, Body-Mass-Index, körperliche Aktivität oder Vorerkrankungen wurden erfasst und kontrolliert.
Insgesamt 33% der Teilnehmerinnen nahmen mit 60 Jahren an irgendeiner Aktivität teil, 12% an Erwachsenenbildung, 13% an künstlerisch-musischen Kursen und 19% bei freiwilligem Engagement. 96,4% gaben an, Leserinnen zu sein (hier wurde nur unterschieden in Lesen/Nicht-Lesen).
Die Frauen wurden bis durchschnittlich 16 Jahre später begleitet. Bis dahin hatten 4% eine Demenz entwickelt: von diesen aber nur 3% innerhalb der ersten 4 Jahre, 15% nach 5 bis 9 Jahren und 82% nach 10 oder mehr Jahren. Der Altersdurchschnitt bei der ersten Demenz-Erwähnung in einer Klinik lag bei 79 Jahren.
Es zeigte sich tatsächlich ein starker Zusammenhang zwischen der Nicht-Teilnahme an geistigen Aktivitäten oder Lesen und einer Demenz – aber nur für die ersten 4 Jahre nach Studienbeginn. In diesem Zeitraum betrug das relative Risiko bei Nicht-Aktivitäten 1,41 (99% KI 1,14-1,75), bei Nicht-Lesen 3,18 (99% KI 2,61–3,88).
Im Zeitraum 5 bis 9 Jahre nach Studienbeginn schwächte sich der Effekt ab (RR 1,21 und 1,37), danach gab es keinen signifikanten Unterschied mehr: Früher aktive Frauen hatten genauso oft eine Demenz entwickelt wie inaktive.
Leitlinien empfehlen geistige Anregung als Prävention
„Die Ergebnisse sind, gemeinsam mit denen anderer Studien, eine starke Evidenz, dass es schon Jahre vor einer Demenz-Diagnose eine fortschreitende Reduktion bei der Teilnahme an geistigen Aktivitäten gibt“, schreiben die Autoren, „die Aktivitäten selbst haben aber keine oder nur geringe Relevanz für das Auftreten der Demenz.“ Oder anders ausgedrückt: „Geistige Aktivitäten sind kein schützender Faktor gegen die Entwicklung einer Demenz.“
Als einziger tatsächlich relevanter Faktor im Zeitraum nach 10 Jahren zeigte sich das Bildungsniveau der Frauen. Auch hier vermuten die Autoren aber nicht, dass ein höherer Schulabschluss wirklich vor Demenz schützt. „Er könnte aber den Betroffenen helfen, die Diagnose zeitlich zu verschieben.“
Derzeit empfehlen die britischen Leitlinien geistige und körperliche Aktivität zur Prävention von Demenz. Auch in der deutschen S3-Leitlinie Demenzen heißt es: „Ein aktiver Lebensstil mit körperlicher Bewegung, sportlicher, sozialer und geistiger Aktivität ist protektiv bezüglich des Auftretens einer Demenz“, und solle daher empfohlen werden.
Die Autoren der Lancet-Studie meinen hingegen: „Vor dem Hintergrund der vorliegenden Evidenz sollten diese Leitlinien überdacht werden.“
Anregender Beruf wirkt vermutlich protektiv
Dafür sieht Thyrian noch keinen Anlass, obwohl die Diskussion wichtig sei. Er sieht einige Schwächen in der Studie, „auch wenn sie insgesamt schon gut durchdacht ist.“
Zum einen sei die Art der geistigen Tätigkeit zu undifferenziert erfasst worden: „Es hängt ja beispielsweise auch stark davon ab, was jemand liest.“
Zum anderen sei die Diagnose Demenz bei einer Klinikeinweisung nicht unbedingt ein zuverlässiges Outcome: „Wir wissen aus Deutschland, dass Demenzen gerade dort stark unterdiagnostiziert sind.“
Und schließlich gebe es andere Studien, die dieser widersprächen: „Es gibt unter anderem Hinweise auf eine protektive Wirkung einer anregenden beruflichen Tätigkeit.“
Grundsätzlich sei Prävention aber immer ein multifaktorielles Geschehen, betont Thyrian: „Da einen Faktor herauszunehmen ist schwierig.“ Zumal dies auch zu „Kollateralschäden“ führen könne: „Weniger Teilnahme etwa an Kursen bedeutet auch weniger soziale Kontakte und oft auch weniger Bewegung.“ Bevor man dazu also nicht mehr rät, müssten erst deutliche Nachweise vorliegen: „Und es gibt in jedem Fall keine Evidenz, dass geistige Anregung schädlich ist.“
Medscape Nachrichten © 2021
Diesen Artikel so zitieren: Lancet-Studie mit 850.000 Frauen: Schützt geistige Aktivität doch nicht vor späterer Demenz? - Medscape - 15. Feb 2021.
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