Wie kann der Schulbetrieb unter Pandemiebedingungen laufen? Antworten darauf will jetzt eine neue S3-Leitlinie „Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle der SARS-CoV-2-Übertragung in Schulen“ geben [1]. „Die Leitlinie zeichnet sich durch eine sehr breite Expertise aus, und das auf einem hohen Evidenzniveau“, zeigt sich Prof. Dr. Ingeborg Krägeloh-Mann überzeugt, die gemeinsam mit Prof. Dr. Reinhard Berner für die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) an der Erstellung der S3-Leitlinie beteiligt war.
Die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) war mit Prof. Dr. Johannes Hübner und Prof. Dr. Arne Simon vertreten. Weitere Experten stammen aus den Bereichen Epidemiologie, Virologie, Krankenhaushygiene und Umweltmedizin, auch das Robert Koch-Institut (RKI) war beteiligt sowie einige Personen aus der Schüler-, Lehrer- und Elternvertretung. Ende November 2020 war mit der Arbeit an der Leitlinie begonnen worden.
„Zum Schluss wurde wirklich ein breiter Konsens erreicht – wozu der Informationsaustausch sehr beigetragen hat. Die Elternvertreter wie auch die Schülerinnen und Schüler waren sehr unterstützend“, sagt Krägeloh-Mann, Vizepräsidentin der DGKJ, gegenüber Medscape.
Im Hinblick auf Kritiker der Schutzmaßnahmen, die nicht selten darauf abzielen, Eltern zu verunsichern, meint sie: „Nicht vergessen darf man meines Erachtens, dass die großen, zustimmenden Gruppen meist leise sind, die Gruppe der Protestierenden laut, aber klein.“
Seit Beginn der COVID-19-Pandemie haben Kinder- und Jugendmediziner immer wieder betont, dass Kinder und Jugendliche nicht nur ein Recht auf Bildung haben. Die Teilnahme am Unterricht decke auch elementare Bedürfnisse sozialer Kontakte und Teilhabe ab und sei für viele auch ein Ort der sozialen Kontrolle und des Schutzes, für einige zudem oft die einzige Gelegenheit am Tag für eine warme Mahlzeit. Auch die begleitenden positiven Effekte auf die Eltern, das Familienleben und die Gesellschaft insgesamt seien nicht zu unterschätzen.
Kleinere Gruppen, Masken, gestaffelte Öffnung, Musik- und Sportunterricht
In der S3-Leitlinie werden Empfehlungen zu 9 Bereichen gegeben, darunter zur Größe der Lerngruppen bei Präsenzunterricht, zum Musik- und Sportunterricht, zum Infektionsschutz auf Schulwegen, zum Umgang mit Verdachtsfällen oder zum Lüften der Klassenzimmer. Entscheidend seien bei den Empfehlungen aber nicht die einzelnen Maßnahmen, sondern die aufeinander abgestimmten Maßnahmenpakete, heißt es.
Die Schülerzahl soll abhängig vom Infektionsgeschehen in der Allgemeinbevölkerung sein, einem Stufenschema entsprechend werden kleine Lerngruppen mit gestaffelten Öffnungen nach Jahrgängen und halbierten Klassen kombiniert. Das Modell soll vornehmlich an weiterführenden Schulen, dann aber auch an Grundschulen umgesetzt werden.
Nach Einschätzung der Autoren der Leitlinie überwiegt der Nutzen von Masken bei Schüler*innen, Lehrer*innen und Schulpersonal. Bei hohem Infektionsgeschehen wird ein medizinischer Mund-Nasen-Schutz (MNS) empfohlen. Für Personen mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Verlauf empfehle sich das Tragen von FFP-2-Masken.
Für Grundschüler könnten zeitlich und örtlich begrenzte Ausnahmen bei regional und überregional mäßigem Infektionsgeschehen in der Bevölkerung und in der Schule erwogen werden.
Im Hinblick auf die Schulwege setzen sich die Autoren der Leitlinie für eine Verringerung der Anzahl von Personen im ÖPNV ein (zu erreichen über eine erhöhte Taktung und mehr Verkehrsmittel), für den Einsatz von Wechselunterricht, gestaffelter Öffnung und versetzten Unterrichtsstart. Durch die Infektionsschutzmaßnahmen auf Schulwegen (Tragen von Masken, weniger Personen zur gleichen Zeit unterwegs) entstehen für die Betroffenen durchaus Nachteile, doch aus Sicht der Experten überwiegen die Vorteile dieser Maßnahmen.
Sowohl Sport- als auch Musikunterricht in Schulen sollten unter Auflagen stattfinden:
Musikunterricht mit Aerosol-generierenden Aktivitäten (z.B. Singen, Blasinstrumente) sollte mit Abstand (mindestens 2 m in alle Richtungen) oder in Innenräumen als Einzelunterricht mit einem adäquaten Hygienekonzept durchgeführt werden.
Sportunterricht in Schulen sollte – unter Auflagen – ebenfalls stattfinden und im Freien, in kleinen und konstanten Gruppen aber ohne Maske durchgeführt werden.
Schulen zu öffnen, ist eine politische Entscheidung
Nach Einschätzung der Autoren der S3-Leitlinie entwickelt sich die Infektionslage in die richtige Richtung. Nun besteht die Hoffnung, dass in den einzelnen Bundesländern die Schulen bald wieder öffnen: „Wichtig für Kindern und Eltern ist allerdings nicht so sehr ein konkretes Datum, viel wichtiger ist ein klarer Plan und eine längerfristige Perspektive. Schulen treffen ein so elementares Grundbedürfnis der Kinder, dass wir es nicht allein an den Infektionszahlen und 7-Tage-Inzidenzen festmachen dürfen. Mit Umsetzung der Empfehlungen aus der S3-Leitlinie ist Schulunterricht auch unter Pandemiebedingungen möglich“, ist Berner überzeugt, Vertreter der pädiatrischen Spezialitäten in der DGKJ.
„Die Frage von Schulöffnungen oder Schulschließungen ist eine politische Entscheidung und hängt von vielen Faktoren ab. Mit unserer Leitlinie bieten wir wissenschaftliche, evidenz- und konsensbasierte Handlungsempfehlungen. Diese ‚Handlungskorridore‘ sollen das Infektionsgeschehen an Schulen minimieren und damit dazu beitragen, Schulen offen zu halten“, erklärt Krägeloh-Mann. Es bestehe ein breiter Konsens – auch europäisch und international – dass Schulschließungen immer das letzte Mittel sein sollten.
Dass die Umsetzung der Maßnahmen vom beteiligten Lehrpersonal und auch von den Schülerinnen und Schülern viel Aufmerksamkeit und Engagement erfordert, hebt Hübner hervor, 1. Vorsitzender der DGPI: „Als Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte wissen wir aber, dass Kinder und Jugendliche das gut leisten können.“
DGKJ und DGPI treten dafür ein, die Öffnung der Schulen wissenschaftlich zu begleiten, um die Evidenzlage zu verbessern und die einzelnen Maßnahmen bei Veränderung der Pandemielage passgenau umzusetzen.
Inititiave RapidTest kritisiert fehlende Testkonzepte
In ihrer Stellungnahme begrüßt die Initiative „RapidTests“ das Zustandekommen der S3-Leitlinie, die hoffentlich zu einer Versachlichung der Diskussion und einem gesellschaftlichen Konsens beitragen werde. Sie kritisiert aber auch: „Leider fehlen darin jegliche Testkonzepte, so dass die Leitlinie eine wichtige Säule der Pandemie-Eindämmung außer Acht lässt.“
Dabei könne die wöchentliche Testung aller Schüler*innen und Lehrer*innen das Risiko von innerschulischen Ansteckungen um 50% reduzieren. Zumal eine jetzt erschienene Arbeit im BMJ zeige, dass in Israel und Italien immer mehr Kinder infiziert werden:
So berichten Kinderärzte in Israel von einem starken Anstieg der COVID-19-Infektionen unter jungen Menschen: Mehr als 50.000 Kinder und Jugendliche wurden im Januar positiv getestet. Das sind mehr, als in Israel in jedem anderen Monat während der 1. und 2. Welle festgestellt wurden.
Ähnliche Warnungen kommen aus Italien: Im Dorf Corzano in der nördlichen Provinz Brescia, waren am 3. Februar 10% der insgesamt 1.400 Einwohner (140) positiv auf das Virus getestet worden, 60% davon waren Kinder im Grundschul- oder Vorschulalter. Es wird vermutet, dass viele dieser Kinder andere Familienmitglieder infiziert haben.
Medscape Nachrichten © 2021 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: S3-Leitlinie soll Unterricht unter Pandemiebedingungen regeln – so könnte es gehen … - Medscape - 10. Feb 2021.
Kommentar