Schmerzmediziner werten Cannabisgesetz als „Meilenstein“, doch es gibt noch Luft nach oben

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

26. Januar 2021

Seit März 2012 können Patienten bei schwerwiegenden Erkrankungen auf Antrag Cannabis zur Therapie erhalten. Als „Meilenstein für die Versorgung von Schmerzpatienten“ bezeichnete Dr. Johannes Horlemann, Kevelaer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS), das Gesetz im Rahmen einer Pressekonferenz [1].

Die DGS habe das Gesetz begrüßt, erinnerte Horlemann: „Wir waren alle froh und dankbar.“ Wie gut und sicher ist die Versorgung mit Cannabinoiden dadurch geworden? Horlemann zog eine erste Bilanz und stellte eine Initiative seiner Fachgesellschaft vor, um die sichere Versorgung mit Cannabinoiden zu erleichtern.

Es hat sich herausgestellt, dass die Hauptindikation für Cannabinoide bei chronischen Schmerzen, meist neuro­pathischen Schmerzen liegt, besonders im Bereich von Rückenschmerz, Tumorschmerz und anderen Schmerzformen. Die Erkrankung muss „schwerwiegend“ sein: ein dehnbarer Begriff. Hinzu kommt, dass Ärzte zuvor alle anderen therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft haben.

 
Die Ausschöpfung der Standardtherapie ist in vielen Anträgen ein Problem. Dr. Johannes Horlemann
 

Die meisten Verordner sind Hausärzte, Schmerzmediziner und Neurologen. Bislang gebe es keine Hinweise auf eine missbräuchliche Auslegung oder Anwendung des Gesetzes, so Horlemann. Die Versorgung mit Cannabinoiden bezeichnet er als „segensreich für die allermeisten Patienten, die ich kenne – sowohl aus eigener Praxis als auch aus den Berichten von Kollegen“.

Kassen bewilligen jeden 3. Antrag nicht

Allerdings wird ein Drittel der Anträge zur Versorgung mit Cannabinoiden abgelehnt. Manchmal sei die Bedingung, vorher alle anderen Therapien versucht zu haben, nicht erfüllt, berichtet Horlemann: „Die Ausschöpfung der Standardtherapie ist in vielen Anträgen ein Problem. Unter dem Drittel der abgelehnten Anträge sind doch einige, bei denen die Berücksichtigung der Standardverfahren nicht ausreichend erfolgt ist.“

In anderen Fällen ist die Ablehnung nicht nachvollziehbar. Horlemann berichtet von einem Patienten, dessen Arm infolge einer Armplexusläsion nach einem schweren Motorradunfall bewegungsunfähig war und der sehr starke nervenabhängige Schmerzen aufwies. Der Patient war mit Opioiden, Antiepileptika und Antidepressiva erfolglos behandelt worden, auch nicht medikamentöse Möglichkeiten wie die transkutane elektrische Nervenstimulation waren ausgeschöpft.

Mit ärztlicher Unterstützung stellte der Patient einen Antrag bei seiner Krankenkasse. „Zu unserem großen Erstaunen wurde der Antrag abgelehnt“, berichtet Horlemann. Das habe auch damit zu tun, dass man in Deutschland der Auffassung sei, dass Tumorpatienten eine größere Indikation für Cannabinoide aufweisen als Nicht-Tumorpatienten.

Horlemann betonte, dass auch Patienten, die nicht an Tumoren leiden, palliative Patienten sein können und eine Versorgung mit Cannabinoiden benötigten. „Unsere Renitenz und die Verhandlungen mit der Krankenkasse haben dann dazu geführt, dass der Patient inzwischen Cannabis erhält. Vor einigen Monaten hat er mir gesagt, dass er dadurch ein völlig neues Leben geschenkt bekommt hat. Das ist eine wunderbare Erfahrung zwischen Arzt und Patient – das wünsche ich allen Kollegen, die mit Cannabinoiden arbeiten.“

Selektivvertrag: Vorreiter auf dem Weg zur schnelleren Versorgung

Weil die Einschätzung zwischen verordnendem Arzt und Medizinischem Dienst der Kassen – wie am Beispiel des Motorradfahrers gesehen – gelegentlich abweicht, warten viele Patienten zu lange auf eine angemessene Versorgung. Um Abhilfe zu schaffen, hat die DGS Verhandlungen mit gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen.

Ziel der Initiative ist die Aufhebung des Genehmigungsvorbehaltes einer Erstverordnung durch die Kas­sen. „Das bedeutet, dass die Therapieentscheidung ausschließlich beim Arzt in Absprache mit seinem Patienten liegen soll. Gleichzeitig soll ein nachvollziehbarer Qualitätsanspruch gewährleistet bleiben”, erklärt Horlemann.

Schule machen könnte dabei ein Selektivvertrag, den die DGS und die AOK Rheinland/Hamburg im Dezember vergangenen Jahres vereinbar haben. Ziel des Vertrages ist, den Patienten rasch eine gute Versorgung zukommen zu lassen.

 
Die Therapieentscheidung sollte ausschließlich beim Arzt in Absprache mit seinem Patienten liegen. Dr. Johannes Horlemann
 

„Ein solches Antragsverfahren aufzuheben setzt das besondere Vertrauen der Kassen in die Qualität der Versorgung voraus“, so Horlemann. Mit einem eigens entwickelten 40-stündigen Curriculum für die verordnenden Ärzte will die DGS das gewährleisten. Das Projekt soll von einer Studie begleitet werden. Horlemann hofft, dass sich der Selektivvertrag auf ganz Deutschland ausdehnen werde.

Um die Versorgung zu verbessern, hat die DSG auch ihre PraxisLeitlinie Tumorschmerz aktualisiert. Im 1. Quartal 2021 soll ein neuer Entwurf zur öffentlichen Kommentierung und Konsentierung publiziert werden.

PraxisRegister Schmerz unterstützt die Versorgungsforschung

Mit dem PraxisRegister Schmerz und der ihm zugrunde liegenden Online-Plattform iDocLive® bietet die DGS seit 2014 allen Mitgliedern und Schmerzpatienten eine Plattform zur vollelektronischen Do­kumentation.

Die Daten werden für die Behandlung der Patienten genutzt, sie ermöglichen aber auch Analysen für Versorgungsforschung und liefern Antworten auf epidemiologische Fragen.

PD Dr. Michael Überall, Nürnberg, Vizepräsident der DGS, stellte aktuelle Zahlen vor. Demnach beteiligen sich bundesweit 213 Einrichtungen mit 769 Schmerzmedizinern, 795 Ärzten anderer Fachrichtungen und 2.551 nichtärztlichen Schmerz­spezialisten am PraxisRegister Schmerz. Bis zum 31.12.2020 wurden über dieses System 302.617 Behandlungsfälle erfasst.

Neben der Dokumentation von Befunden wurde Ende 2020 erstmals auch ein Evaluationsalgorithmus in das System integriert, der anhand von Patientenangaben das Risiko für Morbus Fabry bewertet und den behandelnden Arzt informiert. So kann diese seltene Stoffwechselerkrankung möglicherweise frühzeitig diagnostiziert werden.

Mit dem PraxisRegister Schmerz unterstützt die DGS das weltweit größte Schmerzregister. „Damit wurde erstmalig ein Weg gefunden, die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung gleichermaßen für den Einzelfall, wie auch für die Gemeinschaft der chronischen Schmerzpatienten zu nutzen und Daten­schutz sowie Gesunderhaltung und Heilung zu verbinden“, sagt Überall.

Unter dem Motto „Sichere Ver­sorgung – Versorgung sichern“ findet der Deutsche Schmerz-und Palliativtag 2021 vom 9. bis 13. 2021 März online statt. Themen des Kongresses sind die interdisziplinäre Zusam­menarbeit mit anderen Fachgesellschaften, die koordinierte Übergabe von der Klinik in die ambulante Versorgung, die Implementierung von Komplementärverfahren und aktuelle PraxisLeitlinien.
 

Kommentar

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