Mehr als COVID-19: EMA stellt Topliste der Zulassungen aus 2020 vor – diese Neuerungen haben die Therapie vorangebracht

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

22. Januar 2021

Die spektakulärste Zulassung der Europäischen Arzneimittelagentur EMA im Jahr 2020 war sicherlich diejenige für den COVID-19-Impfstoff von Pfizer/BioNTech kurz vor Jahreswechsel. Auch eine COVID-19-Therapie hat die EMA zugelassen – daneben aber auch noch 95 weitere Arzneimittel – darunter 39 Pharmaka mit neuen Wirkstoffen ohne bisherige Zulassung in der EU. Zudem veröffentlichte die Behörde eine positive Stellungnahme für ein Arzneimittel zur HIV-Prophylaxe in Ländern außerhalb der EU. All dies hat die EMA nun in ihrem Jahresrückblick publiziert [1].

Fortschritte bei der Behandlung wichtiger Erkrankungen

Einige der neu zugelassenen Medikamente bewertet die EMA laut ihrem Report als „bedeutende Fortschritte“ in verschiedenen Therapiegebieten. Eine Auswahl:

Bei Krebs:

  • Blenrep® (Belantamab Mafodotin, ein humanisierter monoklonaler IgG1κ-Antikörper) wird zur Behandlung erwachsener Patienten mit rezidiviertem oder refraktärem multiplem Myelom empfohlen, falls ihre Erkrankung nicht mehr auf einen immunmodulatorischen Wirkstoff, einen Proteasom-Inhibitor oder einen monoklonalen CD-38 Antikörper anspricht.

  • Rozlytrek® (Entrectinib, ein Tyrosinkinase-Inhibitor) kommt bei Patienten, deren solide Tumoren eine neurotrophe Tyrosin-Rezeptor-Kinase-Genfusion aufweisen, oder bei Patienten mit ROS1-positivem fortgeschrittenem nicht-kleinzelligem Lungenkrebs zum Einsatz.

  • Tecartus® (Brexucabtagen Autoleucel, eine CAR-T-Zelltherapie) wird bei erwachsenen Patienten mit rezidivierenden oder therapierefraktären Mantelzell-Lymphomen angewendet.

In der Endokrinologie:

  • Givlaari® (Givosiran, eine synthetische RNA) ist der 1. Arzneistoff zur Behandlung der akuten hepatischen Porphyrie bei Erwachsenen und Jugendlichen ab 12 Jahren. Es inhibiert die Bildung von Aminolävulinsäuresynthase, eines Schlüsselenzyms der Hämoglobinsynthese.

  • Rybelsus® (Semaglutid) wird Erwachsenen mit unzureichend kontrolliertem Typ-2-Diabetes verordnet. Hier handelt es sich um den 1. Glucagon-like Peptide (GLP-1)-Rezeptor-Agonisten zur oralen Anwendung.

Infektionen:

  • Rekambys® (Rilpivirin, ein Virustatikum) und Vocabria® (Cabotegravir, ein Integrase-Inhibitor) sollen zusammen bei Infektion mit dem Humanen Immundefizienz-Virus Typ 1 (HIV-1) eingesetzt werden. Es handelt sich um die 1. langwirksame Formulierung.

Immunologie:

  • Von Idefirix® (Imlifidase, eine Cysteinprotease) profitieren Patienten, die auf eine Nierentransplantation warten, die hochgradig gegen Gewebe des Spenders sensibilisiert sind oder die einen positiven Kreuzprobe-Test gegen eine verfügbare Niere eines verstorbenen Spenders haben. Imlifidase baut IgG-Antikörper ab und verringert die Wahrscheinlichkeit, dass der Körper die Spenderniere abstößt.

Neurologie:

  • Zugelassen wurde Libmeldy® zur Behandlung der metachromatischen Leukodystrophie (MLD), einer seltenen erblichen Stoffwechselerkrankung des Nervensystems. Für das Arzneimittel werden CD34+-hämatopoetische Stamm- und Vorläuferzellen entweder aus dem eigenen Knochenmark des Patienten oder aus mobilisiertem peripherem Blut entnommen und gentechnologisch modifiziert.

  • Zolgensma® (Onasemnogen Abeparvovec, eine Gentherapie) eignet sich zur Behandlung von Säuglingen und Kleinkindern mit spinaler Muskelatrophie, einer seltenen, meist tödlichen Erbkrankheit, die Muskelschwäche und fortschreitenden Bewegungsverlust verursacht.  Der Wirkstoff enthält eine funktionelle Kopie des defekten SMN1-Gens in einem viralen Vektor.

Allergologie und Pneumologie:

  • Mit Enerzair breezhaler® wurde die 1. Asthma-Dreifachkombinationstherapie mit optionalem elektronischem Sensor zur Erfassung von Daten über die Verwendung des Inhalators durch den Patienten auf den Markt gebracht. Er enthält die bekannten Wirkstoffe Indacaterol, Glycopyrroniumbromid und Mometason.

  • Zur Behandlung von Mukoviszidose hat die EMA Kaftrio® als 1. Dreifach-Kombinationstherapie zugelassen. Sie richtet sich an Patienten ab 12 Jahren, die homozygot für die F508del-Mutation im CFTR-Gen (Cystic Fibrosis Transmembrane Conductance Regulator) oder heterozygot für F508del im CFTR-Gen mit einer Minimal Function (MF)-Mutation sind. Elexacaftor und Tezacaftor erhöhen die Anzahl der CFTR-Proteine auf der Zelloberfläche, Ivacaftor verbessert die Aktivität des defekten CFTR-Proteins.

Urologie und Nephrologie:

  • Oxlumo® kann bei der seltenen Erbkrankheit primäre Hyperoxalurie Typ 1 verordnet werden. Die aktive Komponente Lumasiran hemmt als Small interfering RNA (siRNA) die Ablesung eines Gens und die Produktion von Hydroxysäureoxidase. Damit entsteht auch weniger Glyoxylat: ein Metabolit, der in hoher Konzentration zu Nierensteinen führen kann.

Impfstoffe:

  • Zabdeno®/Mvabea® (Ad26.ZEBOV/MVA-BN-Filo) schützen als Komponenten eines neuen Impfstoffs Personen ab einem Alter von einem Jahr vor Ebola-Viruserkrankungen. Grundlage sind genetisch modifizierte Adenoviren und Vacciniaviren, die im Körper Ebola-Proteine exprimieren.

Therapie und Prophylaxe von COVID-19

Die EMA trägt nach eigenen Worten zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie bei, indem sie die Entwicklung und Zulassung von sicheren, wirksamen Behandlungen und Impfstoffen zwar beschleunigt, dabei aber gleichzeitig ihre Standards für Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit beibehält. Zu den regulatorischen Instrumenten gehören verkürzte Fristen, aber auch fortlaufende Überprüfungen von Daten („Rolling Review“).

Auch hier ein Überblick:

  • Im Dezember 2020 empfahl der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der EMA die Erteilung einer bedingten Zulassung für den von BioNTech und Pfizer entwickelten Impfstoff Comirnaty® bei Menschen ab 16 Jahren.

  • Ende 2020 befand sich der COVID-19-Impfstoff mRNA-1273 von Moderna in der Bewertung des CHMP.

  • Im Juni 2020 empfahl der CHMP die Erteilung einer bedingten Zulassung für Veklury® (Remdesivir) zur Behandlung von COVID-19 bei Erwachsenen und Jugendlichen ab 12 Jahren mit Lungenentzündung, die zusätzlichen Sauerstoff benötigen.

  • Im Dezember riet der Ausschuss zur Änderung der Produktinformation, um klarere Anweisungen zu geben, bei welchen COVID-19-Patienten, die zusätzlichen Sauerstoff benötigen, es angewendet werden sollte.

  • Im September 2020 schloss der Ausschuss die Überprüfung der Ergebnisse eines RECOVERY-Studienarms ab. Er kam zu dem Schluss, dass Dexamethason als Behandlungsoption für Patienten, die eine Sauerstofftherapie (von zusätzlichem Sauerstoff bis hin zur mechanischen Beatmung) benötigen, in Betracht gezogen werden kann.

  • Im Laufe des Jahres erinnerte die EMA zudem Ärzte mehrfach daran, Patienten mit COVID-19, die Chloroquin oder Hydroxychloroquin erhalten haben, genau zu überwachen, da die Behandlung mit diesen Medikamenten schwerwiegende Nebenwirkungen hervorrufen kann. Ob die Therapie positive Effekte bei COVID-19 hat, ist nach wie vor nicht erwiesen.

Empfehlungen für Länder außerhalb der EU

Im Juli 2020 gab der CHMP auch eine positive Stellungnahme für den Dapivirin-Vaginalring (Dapivirin) ab, der zur Verringerung des Risikos einer Infektion mit dem humanen Immundefizienzvirus Typ 1 (HIV-1) in Kombination mit Safer-Sex-Praktiken verwendet wird, wenn eine orale Präexpositionsprophylaxe (PrEP) nicht möglich ist.

Der Ring wird in der Vagina platziert und setzt das antiretrovirale Medikament Dapivirin über einen Zeitraum von 28 Tagen langsam frei. Die Zulassung erfolgte gemäß Artikel 58 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004: ein juristischer Rahmen, um Arzneimittel zu bewerten, die zur Verwendung in Ländern außerhalb der EU bestimmt sind.

Pharmaka schneller verfügbar machen

6 Medikamente erhielten eine Empfehlung für die Marktzulassung nach einer beschleunigten Bewertung, nämlich Blenrep®, Enhertu®, Givlaari®, Oxlumo®, Oxlumo® und Mvabea®/Zabdeno® (Details siehe oben „Fortschritte bei der Behandlung wichtiger Erkrankungen“).

Dieses regulatorische Instrument ist Arzneimitteln zur Anwendung bei ungedecktem medizinischem Bedarf vorbehalten. Es ermöglicht eine schnellere Bewertung der in Frage kommenden Arzneimittel durch die wissenschaftlichen Ausschüsse der EMA innerhalb von maximal 150 Tagen statt 210 Tagen.

Bedingte Marktzulassung

Im Jahr 2020 haben außerdem 13 Arzneimittel Empfehlungen für bedingte Zulassungen erhalten: eine der Möglichkeiten in der EU, um Patienten rascher Zugang zu neuen Arzneimitteln zu ermöglichen, falls es keine sonstigen Therapien gibt. In dem Fall sind – unter Auflagen – weniger Daten als bei normalen Zulassungen erforderlich. Bei den Arzneimitteln mit bedingter Zulassung handelt es sich um:

  • Ayvakyt® (Avapritinib, ein Tyrosinkinase-Inhibitor) zur Behandlung von gastrointestinalem Stromatumoren, einer Krebserkrankung des Magens und des Darms, die nicht durch eine Operation entfernt werden kann und sich auf andere Teile des Körpers ausgebreitet hat. Ayvakyt® wird eingesetzt, wenn die Krebszellen eine D842V-Mutation aufweisen. Das ist eine Veränderung im Gen für den Thrombozyten-Wachstumsfaktor-Rezeptor alpha.    

  • Blenrep® (Belantamab Mafodotin, ein humanisierter monoklonaler IgG1κ-Antikörper gegen das B-Zell-Reifungsantigen BCMA) zur Behandlung des rezidivierten und refraktären Multiplen Myeloms.

  • Enhertu® (Trastuzumab Deruxtecan, ein Antikörper-Wirkstoff-Konjugat) zur Behandlung von metastasiertem HER2-positivem Brustkrebs.

  • Retsevmo® (Selpercatinib, ein Kinasehemmer) für die Behandlung von Krebserkrankungen mit RET-Genfusion (rearranged during transfection), etwa nicht-kleinzelligem Lungenkrebs, Schilddrüsenkrebs und medullärer Schilddrüsenkrebs mit diesem Merkmal.

  • Rozlytrek® (Entrectinib, ein Tyrosinkinase-Inhibitor) für die Behandlung von Patienten, deren solide Tumoren eine neurotrophe Tyrosinrezeptor-Kinase-Genfusion aufweisen, oder Patienten mit ROS1-positivem fortgeschrittenem nicht-kleinzelligem Lungenkrebs.

  • Tecartus® (Brexucabtagene Autoleucel, eine Gentherapie) zur Behandlung des rezidivierten oder refraktären Mantelzell-Lymphoms.

  • Comirnaty®, ein mRNA-Impfstoff gegen Infektionen mit SARS-CoV-2.

  • Veklury® (Remdesivir, ein Virustatikum) bei COVID-19.

  • Adakveo® (Crizanlizumab, ein monoklonaler Antikörper) zur Vorbeugung von wiederkehrenden vasookklusiven Krisen bei Patienten mit Sichelzellkrankheit.

  • Hepcludex® (Bulevirtid, ein Virustatikum) zur Behandlung der chronischen Hepatitis-Delta-Virus-Infektion bei erwachsenen Patienten mit kompensierter Lebererkrankung.

  • Idefirix® (Imlifidase, eine Protease) für erwachsene Patienten, die auf eine Nierentransplantation warten, die hochsensibilisiert sind gegen Gewebe des Spenders und die einen positiven Kreuzprobe-Test gegen eine verfügbare Niere eines verstorbenen Spenders haben.

  • Zolgensma® (eine Gentherapie) zur Behandlung der spinalen Muskelatrophie (SMA), einer schweren Erkrankung der Nerven, die Muskelschwund und -schwäche verursacht.

Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen

Ein Medikament wird arzneimittelrechtlich unter außergewöhnlichen Umständen zugelassen, falls es nur sehr wenige Patienten mit der Krankheit gibt, falls die Erhebung vollständiger Informationen über Wirksamkeit und Sicherheit unethisch wäre oder falls es ungeklärte wissenschaftliche Fragen gibt. Diese Arzneimittel unterliegen besonderen Verpflichtungen nach der Zulassung. In 2020 gehörten dazu:

  • Elzonris® (Tagraxofusp, ein Fusionsprotein) zur Behandlung von blastischen plasmazytoiden dendritischen Zellneoplasmen.

  • Lumoxiti® (Moxetumomab Pasudotox, ein Anti-CD22-Immuntoxin) zur Behandlung der rezidivierenden oder refraktären Haarzellenleukämie, einer Krebserkrankung der B-Lymphozyten.

  • Obiltoxaximab SFL® (Obiltoxaximab, ein monoklonaler Antikörper) zur Behandlung von inhalativ erworbenem Milzbrand, einer schweren Krankheit, die durch das Bakterium Bacillus anthracis verursacht wird.

  • Mvabea®/Zabdeno® zur Impfung gegen Infektionen mit Ebolaviren (Details siehe oben).

Zulassung bei seltenen Erkrankungen

Europäische Behörden fördern die Entwicklung und Vermarktung von Arzneimitteln für seltene Krankheiten, indem sie Anreize für forschende Hersteller schaffen. Ein Ausschuss der EMA überprüft, inwieweit der Orphan-Drug-Status infrage kommt – und die Hersteller dann von 10 Jahren Marktexklusivität profitieren können. Das galt in 2020 für:

  • Elzonris® (Tagraxofusp, ein Fusionsprotein) zur Behandlung von blastischen plasmazytoiden dendritischen Zellneoplasmen.

  • Hepcludex® (Bulevirtid, ein Virustatikum) zur Behandlung der chronischen Hepatitis-Delta-Virus-Infektion bei erwachsenen Patienten mit kompensierter Lebererkrankung.

  • Libmeldy® (eine Gentherapie) zur Behandlung der metachromatischen Leukodystrophie (MLD), einer seltenen erblichen Stoffwechselerkrankung, die das Nervensystem betrifft.

Beiträge zur Arzneimittel-Therapiesicherheit

Sobald ein Medikament auf den Markt gebracht wurde, überwachen die EMA und alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union kontinuierlich seine Qualität und sein Nutzen-Risiko-Verhältnis. Wichtige neue Sicherheitshinweise, die im Jahr 2020 veröffentlicht wurden, betrafen unter anderem: 

  • Cyproteronacetat: Das Risiko für ein Meningeom steigt mit zunehmender kumulativer Dosis. Die Anwendung von Cyproteronacetat ist kontraindiziert bei Patienten mit einem Meningiom oder einem Meningiom in der Vorgeschichte.

  • Flurochinolon-Antibiotika: Produktinformationen wurden aktualisiert, um auf das erhöhte Risiko einer Herzklappen-Regurgitation bzw. -Insuffizienz hinzuweisen.

  • Hormonersatztherapie: Neue Empfehlungen basieren auf Erkenntnissen einer großen Studie, die im August 2019 in The Lancet veröffentlicht wurde und die das bekannte höhere Brustkrebsrisiko bei Frauen bestätigt. Die Ergebnisse zeigten, dass das Risiko noch 10 Jahre oder länger nach dem Ende einer HRT erhöht sein kann, falls Frauen Hormone mehr als 5 Jahre lang verwendet haben.

 

Kommentar

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