Der Inhalt ist nicht ganz gewöhnlich für eine Leitlinie: In der ersten S3-Leitlinie zur vaginalen Geburt im deutschsprachigen Raum geht es neben dem körperlichen auch oft um das seelische Wohlergehen der Mutter – und darum, was man gerade nicht tun soll [1].
„Der Fokus auf die Frau und auf den natürlichen Ablauf war uns sehr wichtig“, sagt Prof. Dr. Rainhild Schäfers, Leiterin des Bereichs Hebammenwissenschaft an der Hochschule für Gesundheit Bochum und Leitlinienkoordinatorin für die Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft (DGHWi), gegenüber Medscape.
Neben der Bündelung des aktuellen Wissens erhoffen sich die Autoren auch, dass die Leitlinie „zum Wohl von Mutter und Kind“ die Zusammenarbeit von Ärzten und Hebammen fördert.
Medizin definiert sich oft über Handeln
An der Leitlinie waren 16 Organisationen beteiligt, die Federführung hatten die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) und die DGHWi. Die Leitlinie bezieht sich nur auf vaginale Geburten von Einlingen in Schädellage und am Termin. „Termin“ ist dabei definiert als der Zeitraum von der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche (SSW) bis zur vollendeten 41. Woche plus 6 Tage.
Beschrieben werden im Detail die natürlichen Geburtsphasen mit der Abgrenzung zu problematischen Entwicklungen und die Gründe für oder gegen Eingriffe in den natürlichen Geburtsverlauf.
So wird etwa genau festgelegt, welche fetale Herzfrequenz noch für wie lange tolerabel ist und wann ärztliche Hilfe hinzugezogen werden soll. „In der Medizin definieren wir uns ja oft über das Handeln“, sagt Schäfers, „in der Geburtshilfe ist aber auch die gekonnte Nicht-Intervention wichtig.“ Daher finden sich in der Leitlinie Hinweise wie dieser (für die aktive Eröffnungsphase): „Wenn der Geburtsverlauf regelrecht ist und es der Mutter und dem Kind gut geht, sollen keine Interventionen angeboten und empfohlen werden.“ Auch an vielen anderen Stellen betont die Leitlinie vor allem, was nicht routinemäßig angewendet werden soll.
Viele Empfehlungen sind sehr praxisorientiert. Etwa, dass Gebärende „ab der aktiven Eröffnungsphase“ eine Eins-zu-eins-Betreuung durch eine Hebamme bekommen und in der aktiven Austrittsphase nicht mehr allein gelassen werden sollten. Und: „Gebärende sollen darin unterstützt werden, die Musik ihrer Wahl abzuspielen.“
Auch bei alternativen Methoden der Schmerzlinderung wie Akupunktur, Akupressur, Hypnose, Aromatherapie und Yoga könne „den Wünschen der Frau entsprochen werden“, da keine nachteiligen Wirkungen beschrieben wurden. Empfehlungen zur Homöopathie werden hingegen nicht abgegeben, wegen fehlender Evidenz.
Wunsch der Frau möglichst respektieren
Nach der Geburt empfiehlt die Leitlinie wieder „Weniger ist mehr“, wenn es keine Komplikationen gibt: „Unmittelbar nach der Geburt sollten alle pflegerischen und diagnostischen Maßnahmen oder medizinischen Eingriffe auf ein Mindestmaß reduziert werden.“ Denn diese Zeit sei für das gegenseitige Kennenlernen von Mutter und Kind, das so genannte Bonding, besonders wichtig.
Für die Phase betont die Leitlinie erneut sehr die Selbstbestimmung der Mutter, die nach Möglichkeit zu respektieren ist. Etwa beim Thema Nabelschnur. Zwar solle diese vor Ablauf von 5 Minuten nach der Geburt abgeklemmt und durchtrennt werden. Aber: „Entscheidet die Frau, dass die Nabelschnur erst nach Ablauf von mehr als 5 Minuten nach der Geburt abgeklemmt wird, dann sollte dieser Wunsch respektiert werden und die Frau entsprechend ihrer Entscheidung unterstützt werden.“
Die Leitlinie ist eine Momentaufnahme. Denn die Recherche hat deutlich gemacht, „dass die Evidenzlage zu einzelnen Themenfeldern häufig unbefriedigend ist“, so die Autoren, „und es in vielen Fällen noch weiterer Forschung bedarf, um eine belastbare Nutzen-Risiko-Analyse verschiedener Maßnahmen erstellen zu können.“
Manche „tradierte Maßnahmen“ würden unreflektiert und unter Verzicht einer wissenschaftlichen Grundlage über Generationen weitergegeben. Als Beispiel nennt Schäfers etwa die Annahme, dass die Austreibungsphase bei einer Mehrfachgebärenden höchstens 30 Minuten dauern soll. Oder dass rund ein Viertel der Geburten heute mit Wehentropf stattfinden: „So defizitär kann es die Natur eigentlich nicht eingerichtet haben, dass das bei jeder vierten Frau notwendig ist.“
Schäfers erwartet, dass die Leitlinie in der Praxis etwas verbessern wird. An manchen Punkten aber sei auch die Politik gefordert, die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Empfehlungen überhaupt umgesetzt werden können. Etwa der Hinweis, dass ein regelmäßiges Abhören der kindlichen Herztöne ebenso sicher ist wie das Aufzeichnen mit einem Wehenschreiber. „Das können Sie natürlich nur machen, wenn die Hebammen auch die Zeit dafür haben. Dies ist aber nur in wenigen Kliniken gegeben.“
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Diesen Artikel so zitieren: Fokus auf die Frau und den natürlichen Ablauf – erste S3-Leitlinie zur vaginalen Geburt am Termin - Medscape - 21. Jan 2021.
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