Gegen viele Widerstände: Ab 2021 müssen Kliniken über mehr Erfahrung mit extrem kleinen Frühchen verfügen

Dr. Angela Speth

Interessenkonflikte

13. Januar 2021

Für die Geburtsmedizin bringt 2021 eine Neuerung: Seit Januar darf ein Perinatalzentrum extrem kleine Frühgeborene erst aufnehmen, wenn dort jährlich mehr als 25 solcher Kinder betreut werden [1]. Bisher lag die untere Grenze bei 14. Doch jetzt konnte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die Anhebung der sogenannten Mindestmenge durchsetzen, nachdem nachgewiesen ist, dass Mortalität und Komplikationen zurückgehen, wenn Kliniken über ein gewisses Maß an Erfahrung verfügen.

Übung macht den Meister – mit der Mindestmengen-Regelung versucht der G-BA, diese sprichwörtliche Erkenntnis im Alltag der Krankenhäuser zu verankern: Sie dürfen zahlreiche Operationen und Behandlungen erst anbieten, wenn sie pro Jahr eine bestimmte Marge erreichen. Das soll garantieren, dass die Patienten auf hohe Qualität vertrauen können.

Mindestmengen stehen als Surrogat-Parameter für qualifizierte Mitarbeiter in ausreichender Zahl, für hochwertige Ausstattung, Handeln nach dem neuesten Forschungsstand, „und zwar ohne ständiges Schielen auf Wirtschaftlichkeit“, bestätigt der Versorgungsforscher Prof. Dr. Max Geraedts von der Universität Marburg in einer Mitteilung des Science Media Center (SMC) [2].

Vor 10 Jahren hatte der G-BA einen Rechtsstreit verloren

Über die Betreuung von Kindern mit einem Geburtsgewicht unter 1.250 Gramm war im Jahr 2010 bereits juristisch gefochten worden: Damals hatte der G-BA die Mindestzahl auf jährlich 14 pro Krankenhaus festgesetzt, plante jedoch wenig später eine Erhöhung auf 30. Mehrere Kliniken klagten dagegen und bekamen vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Recht.

Der G-BA stellte daraufhin einen Revisionsantrag, den das Bundessozialgericht jedoch zurückwies mit dem Argument: Die anvisierte Mindestmenge sei (noch) nicht durch Daten untermauert.

Im Lauf der folgenden Jahre legten dann aber internationale Studien nahe, dass eine höhere Mindestmenge das Leben vieler Frühchen rettet und schwere Gesundheitsschäden verhindert. Nach einer im Oktober 2020 publizierten Berechnung für deutsche Kliniken ist die Todesrate bei extrem früh Geborenen am geringsten, wenn eine Klinik jährlich 50 bis 60 dieser Kinder betreut.

Der neue Wert erreicht nur die Hälfte des Optimums

„Mit 25 bleibt der neue Beschluss hinter meinen Erwartungen zurück, daher verstehe ich ihn als ersten Schritt in die richtige Richtung“, konstatiert Prof. Dr. Mario Rüdiger vom Universitätsklinikum Dresden, einer von mehreren Neonatologen, die das SMC um eine Einordnung gebeten hatte. Ähnlich urteilt Prof. Dr. Holger Stepan vom Universitätsklinikum Leipzig: „Ein Kompromiss aus unterschiedlichen Interessen und vermutlich das derzeit Machbare.“

 
Mit 25 bleibt der neue Beschluss hinter meinen Erwartungen zurück, daher verstehe ich ihn als ersten Schritt in die richtige Richtung. Prof. Dr. Mario Rüdiger
 

Bereits diese pragmatische Entscheidung hat zur Folge, dass 34 Perinatalzentren, die bisher als Level 1 deklariert waren, auf Level 2 sinken und damit extrem kleine Frühgeborene nicht mehr versorgen dürfen. Nach einer Übergangsfrist von 3 Jahren werden dann 130 erstplatzierte Zentren 83 zweitplatzierten gegenüberstehen, wie Prof. Dr. Christoph Bührer von der Berlin Charité erläutert.

Sinnvoll sei aber eher ein umgekehrtes Verhältnis von 1:2, weil weniger als ein Zehntel der Frühgeburten die Entbindung in einem Level-1-Zentrum benötige. In Schweden betrage die Relation sogar 1:3.

Bei diesen Statements ist zu beachten, dass alle vom SMC angefragten Experten von Kliniken stammen, die nach der AOK-Transparenzliste die geforderten Fallzahlen mit großem Abstand erfüllen. Allerdings gibt nur Bührer einen „potenziellen Interessenkonflikt“ insofern an, als die größeren Krankenhäuser durch die Umgestaltung mehr Patienten bekommen und folglich „eventuell profitieren“.

Die Eltern brauchen psychologische Unterstützung

Nach Rüdigers Ansicht sollte der G-BA stärker ein Argument für die aktuelle und längerfristig für eine noch höhere Mindestmenge betonen: Die Einrichtungen können dann eher ein Team bereitstellen, das die Familien psychologisch und sozialmedizinisch unterstützt, unter der Belastung einer verfrühten Geburt eine enge Bindung zum Kind aufzubauen.

 
Ein Kompromiss aus unterschiedlichen Interessen und vermutlich das derzeit Machbare. Prof. Dr. Holger Stepan
 

Allerdings bringt die Konzentrierung längere Anfahrtswege mit sich, und deshalb wird diskutiert, ob dadurch Nachteile zu befürchten sind. Wohl kaum – darin sind sich die zitierten Experten einig. Rüdiger verweist darauf, dass die östlichen Bundesländer im gesamtdeutschen Vergleich eine geringere Dichte von Perinatalzentren haben, so dass werdende Mütter deutlich weitere Anfahrtswege bewältigen müssen, die Säuglingssterblichkeit aber trotzdem geringer ist.

Geraedts argumentiert mit einer Studie zu ischämischen Schlaganfällen: In ländlichen Gebieten haben die Patienten dort, wo das Blutgerinnsel operativ entfernt werden kann, bessere Chancen als im nächsten Krankenhaus für Schlaganfallversorgung, selbst wenn sich die Fahrt um 50 Minuten verlängert.

Jedoch müssten die Einrichtungen gewährleisten, dass die Angehörigen – auch minderbegüterte – problemlos zu Besuch kommen können. „Wohnortnah heißt nicht automatisch gut, wenn es um Risikoschwangerschaften oder kritische Früh- und Neugeborene geht“, sagt Stepan. Und prognostiziert: „In den Ballungsräumen, wo die meisten Frühgeborenen zur Welt kommen, wird sich bei den Anfahrtswegen praktisch gar nichts ändern.“

Die Mindestmengenregelung – ein heißes Eisen

Die Mindestmengenregelung als grundsätzliches Prinzip war 2004 in Kraft getreten – nach Debatten, die „in ihrer Heftigkeit einmalig in der Geschichte des G-BA“ waren, so ein Beteiligter in einem SCM-Bericht. Vor allem kleinere Kliniken und deren Chefärzte seien Sturm gelaufen, denn sie fürchteten finanzielle Einbußen und Imageverluste, wenn man ihnen bestimmte Verfahren vorenthielt.

Die Ärztevertreter wiederum wollten nicht hinnehmen, dass Chirurgen Operationen, in denen sie seit Langem geübt waren, nicht mehr machen durften, sobald sie an eine Klinik wechselten, die unterhalb des Kontingents lag. Die Länder wiederum wehrten sich gegen eine Beschneidung ihrer Rechte der Krankenhausplanung, die Krankenkassen mussten über die Vergütung entscheiden.

 
Wohnortnah heißt nicht automatisch gut, wenn es um Risikoschwangerschaften oder kritische Früh- und Neugeborene geht. Prof. Dr. Holger Stepan
 

Unbestreitbar scheint jedoch, dass eine Bündelung von Patienten an wenigen Zentren großen Nutzen bringt. In den Niederlanden gelang es mit einer Mindestmenge von 10 Pankreas-Operationen pro Jahr und Klinik, die Sterblichkeit postoperativ von ursprünglich rund 10% auf 5% zu drücken.

Ebenfalls halbiert – von rund 8% auf 4% – wurde in Dänemark die Mortalität nach Herzinfarkt durch drastische Reduktion der zuständigen Kliniken von etwa 50 auf 4. In Deutschland liegt diese Rate immer noch bei 8%. Würde man hier ebenfalls 4% erreichen, könnte man jährlich rund 7.000 Menschen das Leben retten.

Neufassung 2018 hat die Schlupflöcher verengt

Dennoch hielten viele Kliniken die vorgeschriebenen Mindestzahlen nicht ein, blieben die Auskunft schuldig oder machten sogenannte Ausnahme-Tatbestände geltend. Daher sah sich der G-BA veranlasst, die alte Regelung so zu überarbeiten, dass weniger Schlupflöcher blieben. Die Neufassung trat 2018 in Kraft.

Derzeit gelten Mindestmengen nur für 7 Bereiche: außer für Frühchen für komplexe Ösophagus- und Pankreas-Operationen, das Einsetzen von Knieprothesen sowie für Stammzellen-, Leber- und Nierentransplantationen. Dabei sind diese Bereiche mit insgesamt rund 177.000 Behandlungen pro Jahr eine bloße Bagatelle gegen die jährlich mehr als 19 Millionen stationären und ambulanten Eingriffe in Deutschland. Inzwischen werden weitere Mindestmengen vorbereitet, etwa für Herzinfarkt oder Operationen bei Brust-, Lungen- und Darmkrebs.
 

Kommentar

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