5 Stunden Ausdauersport pro Woche oder halb so lang, aber hoch intensiv – Experte erfreut über neue WHO-Empfehlung

Julia Rommelfanger

Interessenkonflikte

29. Dezember 2020

Kinder und Erwachsene sollten sich mehr bewegen und vor allem weniger sitzen – das ist die Essenz der neuen Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO zu körperlicher Aktivität. Die Empfehlungen wurden von Fiona C. Bull von der WHO in Genf und der Universität of the Western Australia in Perth und ihren Kollegen im British Journal of Sports Medicine veröffentlicht [1].

Erwachsene sollten pro Woche mindestens 150 bis 300 Minuten Bewegungszeit in ihren Alltag einbauen; das sind 21 bis 42 Minuten pro Tag. Würden die Bewegungsziele umgesetzt, könnten weltweit jedes Jahr mehr als 5 Millionen vorzeitige Todesfälle verhindert werden, rechnet die WHO in ihrer Publikation der neuen Empfehlungen vor.

WHO verdoppelt Bewegungszeit

Prof. Dr. Ingo Froböse

In den bisherigen Guidelines wurde nur das Minimalziel 150 Minuten genannt. „Ich freue mich, dass die empfohlene Bewegungszeit hochgeschraubt wurde – 150 Minuten sind viel zu wenig“, kommentiert Prof. Dr. Ingo Froböse gegenüber Medscape. Er ist Leiter des Zentrums für Gesundheit durch Sport und Bewegung und Leiter des Instituts für Bewegungstherapie und bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Nur 2,5 von 168 Stunden in der Woche aktiv zu gestalten reiche bei weitem nicht aus. „Die Bewegungszeit zu verdoppeln war der absolut richtige Schritt.“

 
Ich freue mich, dass die empfohlene Bewegungszeit hochgeschraubt wurde – 150 Minuten sind viel zu wenig. Prof. Dr. Ingo Froböse
 

Dabei erreicht laut Statistiken der WHO weltweit ein Viertel aller Erwachsenen nicht einmal das Minimalziel. Alternativ zu den 150 bis 300 Minuten Ausdauersport mittlerer Intensität sind nach den neuen Empfehlungen auch 75 bis 150 Minuten intensiven Trainings möglich – oder eine Kombination von moderaten und intensiven Belastungen.

Neben Ausdauertraining sollte jeder Erwachsene zweimal pro Woche Krafttraining absolvieren. Älteren Menschen ab 65 Jahren empfiehlt die WHO mindestens dreimal in der Woche Körperstabilität- und Muskelkrafttraining. In den vorherigen Empfehlungen galten diese Vorgaben nur für ältere Menschen mit schwach ausgeprägter Mobilität.

Kinder sollten sich mindestens eine Stunde am Tag bewegen, mit mäßiger bis starker Belastung und vor allem im aeroben Ausdauerbereich – dieses Bewegungsziel erreicht Untersuchungen zufolge nicht einmal ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen zwischen 5 und 17 Jahren.

 
60 Minuten sind durch die Sportstunden in der Schule oder im Verein, den täglichen Schulweg zu Fuß oder mit dem Fahrrad sowie das Spielen in der Pause, einfach zu erreichen. Prof. Dr. Renate Oberhoffer-Fritz
 

Diese Erkenntnis sei besonders erschreckend, da es sich bei den 60 Minuten Bewegungszeit um ein Minimalziel handle, das im Alltag von Schüler einfach umsetzbar sei, sagt Prof. Dr. Renate Oberhoffer-Fritz, Leitern des Lehrstuhls für Präventive Pädiatrie an der TU München, im Gespräch mit Medscape.

Unter den 60 Minuten sei alles summiert – auch Treppensteigen, Radfahren, fangen spielen. „Die 60 Minuten sind durch die Sportstunden in der Schule oder im Verein, den täglichen Schulweg zu Fuß oder mit dem Fahrrad sowie das Spielen in der Pause, einfach zu erreichen“, sagt Oberhoffer-Fritz.

Im Grunde sei eine Stunde Bewegung am Tag aber viel zu wenig – umgekehrt bedeute das ja auch 23 Stunden Inaktivität. Insbesondere der unorganisierte Sport, freies Bewegen in der Natur also, habe in den letzten 20 Jahren stark abgenommen. Das belegen Daten einer 2020 veröffentlichten Analyse der KiGGS/MoMo-Studie zur Bewegung von Kindern von 4 bis 17 Jahren.

 
Freies Spielen draußen, Rumrennen, Verstecken spielen – das findet kaum mehr statt. Prof. Dr. Renate Oberhoffer-Fritz
 

„Freies Spielen draußen, Rumrennen, Verstecken spielen – das findet kaum mehr statt. Stattdessen bringen Eltern ihre Kinder mit dem SUV von einem Event zum nächsten“, so Oberhoffer-Fritz.

Jede Minute Bewegung zählt

Ermunternd sei mit Blick auf die WHO-Empfehlungen die Botschaft, jede Bewegung sei besser als gar keine, insbesondere für Kinder, die bislang inaktiv waren, sowie für solche mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen.

„Bewegung hat positive physiologische und funktionelle Effekte auf den sich entwickelnden Organismus, zum Beispiel auf das Muskelwachstum und die Knochendichte, auf die Leistungsfähigkeit des Herz-Kreislaufsystems sowie die Lungenfunktion, auf den Zucker- und Lipidstoffwechsel. Außerdem auf exekutive Funktionen wie Balance, Geschicklichkeit, Fein- und Grobmotorik sowie auf mentale Gesundheit und letztlich auch auf die Gehirnleistung“, summiert Oberhoffer-Fritz. Zudem nehmen aktive Kinder diesen Lebensstil ins Erwachsenenalter mit.

Zu wenig kämen diese Zusammenhänge bei der Behandlung von Patienten, etwa mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen zur Sprache, sagt die Kinderkardiologin. „Meist ist es nicht so, dass die Kollegen in der Ambulanz einen Patienten mit einer Herzerkrankung fragen: Bewegst du dich eigentlich?“ Ihre Erfahrung: Viele Kinder mit chronischen Erkrankungen seien kaum aktiv. „Wichtig ist ihnen zu vermitteln: Du kannst etwas tun, und jede Art von Bewegung zählt.“

Auch Schwangere sollen sich regelmäßig bewegen

Ebenso wenig empfehlen Gynäkologen ihren schwangeren Patientinnen Sport zu treiben, moniert Oberhoffer-Fritz. „Die Folge: immer mehr von ihnen leiden unter Schwangerschaftsdiabetes und Bluthochdruck.“ Umso lobenswerter sei die explizite Aufführung Schwangerer in den Bewegungsempfehlungen der WHO. Sie sollten sich während der gesamten Schwangerschaft regelmäßig bewegen, mindestens 150 Minuten in der Woche, und auch Muskelkraftübungen ins Training einbeziehen.

Weiterhin empfiehlt die WHO, dass sich Kinder und Jugendliche an mindestens 3 Tagen in der Woche intensiv bewegen und außerdem Sport treiben, der Muskeln und Knochen stärkt. Eine bewegungsfreundliche Umgebung könne viel zur Motivation der Kinder beitragen, sagt Oberhoffer-Fritz. Dazu gehören sichere Fahrradwege genau wie ansprechend gestaltete Pausenhöfe, etwa mit Bewegungsparcours, und vernünftig ausgestattete Sporthallen.

Sitzen ist das neue Rauchen

Erstmals fordert die WHO in ihren Bewegungsempfehlungen Kinder genau wie Erwachsene auf, die Zeit, die sie im Sitzen verbringen, zu verringern. Zwar existiere noch kein Höchstmaß für sitzende Tätigkeiten; jedoch sei es gesundheitlich von Vorteil möglichst viel Zeit im Sitzen durch Aktivität zu ersetzen.

„Sitzen ist das neue Rauchen, das hört man immer wieder“, sagt Froböse. Im Schnitt bringen die Menschen in Deutschland 11,4 Stunden im Sitzen zu. „Das Problem: Im Sitzen fährt der Stoffwechsel extrem herunter. Dadurch steigt das Risiko für Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes sowie das für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. „Einfache Maßnahme: Eine Station früher aus der Straßenbahn aussteigen oder eine später einsteigen“, rät Froböse.

 
Sitzen ist das neue Rauchen, das hört man immer wieder. Prof. Dr. Ingo Froböse
 

Für Kinder sei das Sitzen vor dem Computer, Tablet, der Konsole oder dem Fernseher besonders schädlich, warnt die WHO. In zahlreichen Studien habe sich das Sitzen als unabhängiger Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen erwiesen, bestätigt Oberhoffer-Fritz.

Eine 2015 publizierten Studie zur bewegungsfreundlichen Bauweise an Schulen, an der unter anderem der deutsche Bewegungswissenschaftler Dr. Dieter Breithecker, Vorsitzender der Bundesanstalt für Haltungs- und Bewegungsförderung (BAG), beteiligt war, zeige: In Schulen brauche es „Bewegungsorte als zentrale Einrichtungen, die von außen einsehbar und leicht zugänglich sind und im besten Fall einen Blick in die Natur ermöglichen, etwa durch eine große Fensterfront“, sagt Oberhoffer-Fritz.

Auf dem Pausenhof brauchen Kinder „portable Spielgeräte, die die Möglichkeit zur eigenen Erkundung geben, und vielleicht sogar eine Boulder-Ecke. Man muss den Schülern Anreize bieten, etwas zu tun.“

Die Pandemie fördert Bewegungsarmut

Während der Corona-Pandemie driften Kinder wie auch Erwachsene immer weiter in die Bewegungslosigkeit, zum einen durch die Schließung der Sportstätten und das Aussetzen des Schulsports und der Sportangebote in den Vereinen, und zum anderen durch eine Reduktion der Transportwege mit dem Rad oder zu Fuß, warnt Froböse. „Gerade in der dunklen und kalten Jahreszeit werden die Bewegungsradien der Menschen immer kleiner“, so seine Beobachtung. „Den Breitensport nicht zu ermöglichen, ist ein falsches Signal der Politik, zumal Sport der Motor ist, der das Immunsystem stärkt“, so Froböse. Offensichtlich habe diesbezüglich keine Beratung der Regierung stattgefunden, moniert er.   

 
Den Breitensport nicht zu ermöglichen, ist ein falsches Signal der Politik, zumal Sport der Motor ist, der das Immunsystem stärkt. Prof. Dr. Ingo Froböse
 

Insbesondere für ältere Menschen sei das „halbe Jahr Bewegungslosigkeit“ schwierig wieder aufzuholen. „So fördern wir weiter Zivilisationskrankheiten wie Diabetes und Pflegebedürftigkeit.“ Schon heute liege die Zahl der Diabetes-bedingten Sterbefälle bei 60.000 pro Jahr, bemerkt Froböse.

Bewegung als gesellschaftliche und politische Aufgabe

Mit den neuen WHO-Empfehlungen als Rüstzeug gelte es nun, Gesellschaft und Politik zu mobilisieren, sagt Oberhoffer-Fritz. „Den Menschen muss klar sein: Meine Sterblichkeit sinkt, je mehr ich tue.“ Dieses Wissen allein reiche jedoch meist nicht aus, um den Schalter von inaktiv auf aktiv umzulegen.

„Um die Menschen zu motivieren, müssen wir ihre Umgebung attraktiv für Bewegung gestalten“, so die Expertin weiter. Ihre Ideen: Wanderwege so gestalten, dass sie auch Kindern Spaß machen, Fitnessparcours in den Städten gestalten, wo auch Krafttraining stattfinden könne, wie das etwa in China der Fall sei, und Präventionsprojekte starten.

 
Um die Menschen zu motivieren, müssen wir ihre Umgebung attraktiv für Bewegung gestalten. Prof. Dr. Renate Oberhoffer-Fritz
 

Froböse wünscht sich „eine Bewegungskampagne der Bundesregierung“ in Zusammenarbeit mit allen relevanten Ministerien, von Gesundheit über Ernährung und Verkehr bis hin zum Städtebau. Etwa sollten Fußgänger in der Verkehrs-Infrastruktur wieder mehr in den Mittelpunkt gerückt werden, „damit die Menschen sicher und gerne laufen – und gar nicht mehr darüber nachdenken sich zu bewegen, sondern verinnerlicht haben: Ich bin ein eigenes Verkehrsmittel“.

Andere Situation in Entwicklungsländern

In den meisten Entwicklungsländern, insbesondere in denen mit niedrigem Einkommen, sei die Situation etwas anderes, bemerkt ein internationales Autorenteam um Prof. Dr. Estelle Victoria Lambert, Research Centre for Health through Physical Activity, Universität Kapstadt, Südafrika in einem Editorial zur Veröffentlichung der WHO-Empfehlungen [2].

Zwar sei der Level körperlicher Aktivität insgesamt höher, vor allem aufgrund von mehr körperlichen Tätigkeiten und Transportwegen; jedoch sei Sport in der Freizeit bei weitem nicht für alle Bevölkerungsgruppen zugänglich. Den Empfehlungen der WHO müssten nun nationale Maßnahmen und Strategien folgen, die es jedem Menschen „ermöglichen, gefahrlos Sport zu treiben und dies sozusagen als Grundrecht etablieren“, schreibt das Autorenteam.

 

Kommentar

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