Neue Wege gegen Typ-1-Diabetes: Der Antikörper Golimumab schützt Betazellen vor dem Angriff des Immunsystems

Anke Brodmerkel

Interessenkonflikte

17. Dezember 2020

Eine Immuntherapie mit dem Antikörper Golimumab hilft Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einem neu diagnostizierten Typ-1-Diabetes, die Restfunktion ihrer Betazellen aufrechtzuerhalten und so ihren Insulinbedarf zu senken. Das geht aus der Phase-2-Studie T1GER hervor, die jetzt im New England Journal of Medicine publiziert worden ist [1].

Erstmals vorgestellt wurden die wichtigsten Ergebnisse der Studie bereits im September beim diesjährigen virtuellen Kongress der Europäischen Diabetesgesellschaft EASD (European Association for the Study of Diabetes).

Die Forscher um Prof. Dr. Teresa Quattrin vom Department of Pediatrics der Jacobs School of Medicine and Biomedical Sciences in Buffalo, New York, hatten für ihre Untersuchung mit 84 Probanden zwischen 6 und 21 Jahren an 27 US-Zentren den TNF-α-Blocker Golimumab (Simponi®) ein Jahr lang mit einem Placebo verglichen. 56 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Probanden erhielten den Antikörper, 28 das Scheinmedikament. Finanziert wurde die T1GER-Untersuchung von dem Unternehmen Janssen Research & Development.

Positive Effekte selbst nach Ausbruch der Erkrankung

„Das ist eine gut gemachte und sehr wichtige Studie, die zum ersten Mal zeigt, dass eine Immuntherapie selbst bei einem Typ-1-Diabetes der Stufe 3 noch positive Effekte haben kann“, kommentiert Prof. Dr. Thomas Danne im Gespräch mit Medscape. Er ist Chefarzt am Kinderkrankenhaus auf der Bult in Hannover, wo er die Abteilung für Allgemeine Pädiatrie mit Schwerpunkt Kinderendokrinologie und -diabetologie leitet. Beim Typ-1-Diabetes der Stufe 3 ist der Untergang der Betazellen bereits so weit vorangeschritten, dass es zu den klassischen Symptomen eines entgleisten Blutzuckerstoffwechsels kommt.

„Ich denke, dass die Ergebnisse der T1GER-Studie dazu beitragen werden, dass die Immuntherapie künftig eine maßgebliche Rolle in der Behandlung des Typ-1-Diabetes spielen wird“, sagt Danne. Zwar sei auch von diesem Therapieansatz keine Heilung der Autoimmunerkrankung zu erwarten, doch es bestehe berechtigte Hoffnung, dass sich die Krankheit insbesondere durch eine Kombinationstherapie aus Insulin und Antikörpern künftig so gut in den Griff bekommen lasse, dass die Patienten deutlich weniger Komplikationen erleiden.

Gegen andere Krankheiten auch bei Kindern bereits zugelassen

Bislang gibt es neben der T1GER-Studie lediglich eine weitere Publikation zu Immuntherapien beim Typ-1-Diabetes: Im vergangenen Jahr berichteten Forscher ebenfalls im New England Journal of Medicine , dass der Anti-CD3-Antikörper Teplizumab bei Probanden mit einem Diabetes der Stufe 2 den Ausbruch der Erkrankung im Schnitt um etwa 2 Jahre habe hinauszögern können (wie Medscape berichtete).

Bei Diabetes der Stufe 2 lassen sich zwar schon Antikörper gegen die insulinbildenden Betazellen nachweisen, doch es besteht noch eine weitgehend normale Glukosetoleranz, weshalb typische Diabetessymptome fehlen. Patienten dieser Erkrankungsstufe sind daher nur über zielgerichtete Tests auszumachen.

„Der jetzt untersuchte Antikörper Golimumab hat gegenüber Teplizumab den großen Vorteil, dass er bereits gegen andere Autoimmunerkrankungen, zum Beispiel gegen die rheumatoide Arthritis, zugelassen ist – und zwar auch schon bei Kindern“, sagt Danne. Das werde seine Zulassung gegen den Typ-1-Diabetes sicherlich erleichtern.

 
Der jetzt untersuchte Antikörper Golimumab hat gegenüber Teplizumab den großen Vorteil, dass er bereits gegen andere Autoimmunerkrankungen … zugelassen ist – und zwar auch schon bei Kindern. Prof. Dr. Thomas Danne
 

Golimumab hat sowohl antientzündliche als auch immunsuppressive Eigenschaften. Der Antikörper bindet an das proinflammatorische Zytokin Tumornekrosefaktor-α (TNF-α) und blockiert so die Wechselwirkung mit dessen Rezeptoren. Dies führt im Körper zu einer Reduktion von Entzündungsprozessen.

Teplizumab ist zudem recht umständlich anzuwenden. Anders als Golimumab, das in der T1GER-Studie alle 2 Wochen subkutan injiziert wurde, muss der Anti-CD3-Antikörper Teplizumab, der sich gegen T-Zellen richtet, in den gleichen Zeitabständen per Infusion verabreicht werden. Auch lassen sich seine möglichen langfristigen Folgen, etwa Infektionen, Lymphome oder eine Immunsuppression, derzeit noch nicht sicher einschätzen.

Von Golimumab hingegen kenne man das Risikoprofil inzwischen recht genau, sagt Danne. Bislang habe sich der TNF-α-Blocker als sehr sicher erwiesen.

Alle Probanden produzierten geringe Mengen Insulin noch selbst

Für die T1GER-Studie erhielten die Probanden der Interventionsgruppe Golimumab ein Jahr lang verabreicht. Ihre Diagnose des Typ-1-Diabetes lag zu Studienbeginn noch keine 100 Tage zurück, und alle Patienten verfügten noch über eine Restproduktion von Insulin – deren Erhalt das Ziel der Behandlung war.

Bei den meisten Menschen ist diese Restproduktion bei der Diagnose des Typ-1-Diabetes noch vorhanden. Im weiteren Verlauf der Erkrankung lässt sie allerdings durch den anhaltenden Angriff des Immunsystems auf die Betazellen immer mehr nach. „Eine zumindest geringe endogene Insulinproduktion ist deshalb so erstrebenswert, da sie schwere Hypoglykämien verhindern kann und die Patienten sich zudem weniger Insulin spritzen müssen“, erläutert Danne.

Die Menge des endogen produzierten Insulins wird in der Regel über die Serumkonzentration des C-Peptids gemessen. Bei dem Eiweiß handelt es sich um ein Spaltprodukt des körpereigenen Proinsulins. Sein Name steht für den Begriff „Connecting Peptide“, da es die Bausteine des Proinsulins miteinander verbindet.

Es ist in gleicher Menge wie das Insulin im Blut vorhanden, lässt sich aber länger als dieses nachweisen. Das dem Körper von außen zugeführte Insulin enthält hingegen kein C-Peptid.

Erste Unterschiede waren bereits nach 12 Wochen erkennbar

Primärer Endpunkt der T1GER-Studie war die Veränderung der endogenen Insulinproduktion gemessen am AUC-Wert des C-Peptids über einen Zeitraum von 4 Stunden nach einer standardisierten Mahlzeit (AUC: „Area Under the Curve“; gemeint ist die Fläche unter der Konzentration-Zeit-Kurve des C-Peptids im Serum).

Wie Quattrin und ihre Kollegen berichten, fiel der AUC-Wert im Verlauf der 52 Wochen in der Golimumab-Gruppe um 0,13 pmol/ml beziehungsweise um 12%. In der Vergleichsgruppe waren es im gleichen Zeitraum 0,49 pmol/ml beziehungsweise 56%. Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen sei hoch signifikant und bereits 12 Wochen nach Therapiebeginn erkennbar gewesen, schreiben die Forscher.

Probanden der Interventionsgruppe benötigten etwas weniger Insulin

Die weitgehende Aufrechterhaltung der körpereigenen Insulinproduktion machte sich zwar nicht in Unterschieden beim Blutzucker-Langzeitwert HbA1c bemerkbar, wohl aber durch einen leicht verminderten Bedarf an zugeführtem Insulin: Im Verlauf der 52 Wochen stieg die benötigte Dosis in der Interventionsgruppe nur um 0,07 U/kg/Tag, in der Placebogruppe hingegen um 0,24 U/kg/Tag.

Eine partielle Remissionsreaktion (definiert als der HbA1c-Wert plus die 4-fache Insulindosis von ≤9) wurde bei 43% der Teilnehmer in der Golimumab-Gruppe und nur bei 7% der Probanden in der Placebogruppe beobachtet. „Auch damit haben die Forscher gut nachgewiesen, dass die Restfunktion der Betazellen unter Golimumab gut aufrechterhalten werden kann“, kommentiert der deutsche Experte Danne.

Hypoglykämien waren mit dem Antikörper seltener

Auch Unterzuckerungen kamen bei der Behandlung mit Golimumab seltener vor: Die durchschnittliche Zahl an Hypoglykämien der Stufe 2 – mit einem Abfall des Blutzuckers auf weniger als 54 mg/dl – war in der Golimumab-Gruppe mit 11,5 Ereignissen um 36% niedriger als in der Vergleichsgruppe, in der es zu 17,6 Ereignissen kam. Schwere Hypoglykämien oder andere unerwünschte Effekte traten in keiner der beiden Gruppen auf.

Die Beteiligten der T1GER-Studie selbst sind mit ihren Ergebnissen daher ebenfalls recht zufrieden. „Selbst geringe Auswirkungen auf die C-Peptid-Konzentration wurden bereits früher mit besseren kurz- und langfristigen Ergebnissen in Verbindung gebracht, wie zum Beispiel einer Verringerung von Hypoglykämie, Neuropathie und Retinopathie“, begründen die Forscher um Quattrin ihre positive Einschätzung.

Paradigmenwechsel in der Therapie des Typ-1-Diabetes

Nicht nur aus diesem Grund setzt auch der Hannoveraner Mediziner Danne große Hoffnungen in die Immuntherapie: „Versuche, die Betazellen vor den Attacken des Immunsystems zu schützen, könnten in Zukunft die Möglichkeit eröffnen, den Ausbruch der Erkrankung bei Kindern zu verhindern, die schon Antikörper im Blut haben, ohne dass ihre Betazellen bereits endgültig zerstört wären“, sagt er. Allerdings bleibe es eine Herausforderung für das Gesundheitssystem, diese Kinder im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen auch rechtzeitig aufzuspüren.

„Mit der Immunmodulation werden wir früher oder später einen Paradigmenwechsel in der Behandlung des Typ-1-Diabetes einläuten“, sagt Danne. Sobald das erste Medikament zugelassen sei, werde man die neue Therapieoption sicherlich auch in die Leitlinien mitaufnehmen.

 
Mit der Immunmodulation werden wir früher oder später einen Paradigmenwechsel in der Behandlung des Typ-1-Diabetes einläuten. Prof. Dr. Thomas Danne
 

Wichtig sei es nun, die entsprechenden Studien zu standardisieren und auch verschiedene Antikörper-Behandlungen untereinander – und nicht nur mit einem Placebo – zu vergleichen. „Denn nur so besteht die Chance, dass wir für künftig für jeden Patienten den individuell passenden immunmodulatorischen Ansatz finden“, sagt Danne.

Eine Debatte nur für die erste Welt?

Etwas skeptischer, vor allem mit Blick auf ärmere Länder, beurteilt Prof. Dr. Domenico Accili vom Department of Medicine and Berrie Diabetes Center an der Columbia University in New York die Situation: „Wir sollten uns auch vor Augen halten, dass diese Behandlungsdebatte in der ersten Welt geführt wird“, schreibt er in einem Editorial des New England Journal of Medicine  [2].

 
Wir sollten uns auch vor Augen halten, dass diese Behandlungsdebatte in der ersten Welt geführt wird. Prof. Dr. Domenico Accili
 

„Die derzeitige Behandlung von Typ-1-Diabetes erfordert Ressourcen, die in den meisten Teilen der Welt nicht ohne Weiteres verfügbar sind, weil etwas so Banales wie die Kühlung von Insulin zu einem logistischen Alptraum werden kann“, gibt Accili zu bedenken.

Auch wenn Kombinationen der erwähnten Ansätze, die auf das individuelle Risiko der Patienten und den potenziellen Nutzen zugeschnitten seien, wahrscheinlich in die klinische Praxis Einzug halten würden, bleibe daher der Bedarf an einer einfacheren, sichereren und ebenso wirksamen Alternative zu Insulin bestehen.

 

Kommentar

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