Patienten in der Notaufnahme, die eigentlich nicht dorthin gehören, Rettungswagen, die bei Nichtigkeiten gerufen werden – Ärzte und Pflegepersonal am Limit. Das ist der Status quo der Notfallversorgung.
Das Bundesgesundheitsministerium will die Notfallversorgung reformieren. Geplant ist die Zusammenlegung der Telefonnummern 112 und 116117 zu einem gemeinsamen Notfallleitsystem, die Schaffung von integrierten Notfallzentren (INZ) an Krankenhäusern und der Rettungsdienst als eigenständiger Leistungsbereich im SGB V.
Die INZ sollen dabei zentraler Bestandteil der Notfallversorgung werden und unter der Verantwortung der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) zusammen mit den Krankenhäusern betrieben werden. In den Notfallzentren soll eine standardisierte Ersteinschätzung des Versorgungsbedarfes erfolgen, so dass der Patient entweder dort notdienstlich versorgt oder in die Notaufnahme des Krankenhauses zur stationären Versorgung weitergeleitet wird.
Bessere Strukturen durch die INZ?
Doch sind INZ tatsächlich – wie geplant – sektorenübergreifend, verbessern sie die Strukturen? Dr. Martin Pin, seit 2011 Chefarzt der interdisziplinären Notaufnahme am Florence-Nightingale-Krankenhaus in Düsseldorf, zeigte sich auf dem Kongress der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) skeptisch [1].
Die Reform der Notfallversorgung begann 2015 mit dem Versorgungsstärkungsgesetz. Die KVen wurden darin verpflichtet, zur Sicherstellung des Notdienstes mit geeigneten Kliniken zu kooperieren. Im Januar 2016 sah der erste Entwurf (Krankenhausstrukturgesetz) vor, dass die Sicherstellung bei den KVen bleibt, diese sollten aber Notdienstpraxen in Kliniken einrichten und die Notaufnahmen der Krankenhäuser unmittelbar in den Notdienst mit einbinden.
Im Juni 2018 wurde das Gutachten des Sachverständigenrats veröffentlicht, und im Dezember 2018 stellte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn das Eckpunktepapier vor. Kernaussagen waren: gemeinsame Notfallleitstellen, INZ und Rettungsdient als eigenständiger medizinischer Leistungsbereich.
Ersteinschätzung nach Dringlichkeit und Bedarf
„Dann haben wir gewartet – mit der Vorstellung, dass die Notfallversorgung so aussehen wird, wie das der Sachverständigenrat vorgeschlagen hatte“, berichtete Pin. Im Gutachten waren die INZ die zentrale medizinische und organisatorische Einheit mit einem Tresen als zentrale Anlaufstelle. „Dort sollte die Ersteinschätzung erfolgen nach Dringlichkeit und Bedarf.“ Vornehmen sollten sie ärztliche Generalisten, breit weitergebildete Allgemeinmediziner mit notfallmedizinscher Weiterbildung.
Die INZ sollten gemeinsam von Kassenärzten und Kliniken betrieben werden. Im Juni 2019 folgte ein Diskussionsentwurf. Darin stand, dass die INZ vom Krankenhaus und den zuständigen KVen gemeinsam als räumlich und wirtschaftlich abgegrenzte Einrichtungen mit eigenständiger fachlich unabhängiger Leitung an den Kliniken eingerichtet werden sollten.
Im Januar 2020 kam dann der Referentenentwurf. Darin stand, dass der Sicherstellungsauftrag bei den KVen bleibe, die fachliche und organisatorische Leitung des INZ aber ebenfalls. „Sie erinnern sich: Im Entwurf des Sachverständigenrates und auch im Diskussionsentwurf noch sollten die INZ gemeinsam betrieben werden, jetzt liegt die fachliche oder die fachliche und organisatorische Leitung bei der KV“, berichtete Pin.
Erwartbar löste der Referentenentwurf unterschiedliche Reaktionen aus: Die KBV habe ihn begrüßt, die Deutsche Krankenhausgesellschaft sprach von einem Affront und der GKV-Spitzenverband meinte, die neuen INZ in Krankenhäusern würden für klare Verhältnisse sorgen.
G-BA prüfte, inwieweit Klinikärzte für die KV tätig sein können
Wahrscheinlich sei zu dem Zeitpunkt schon klar gewesen, dass die KVen und die Niedergelassenen die INZ nicht alleine würden bewältigen können, berichtete Pin. So wurde der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) beauftragt zu prüfen, inwieweit Krankenhausärzte für die KV tätig sein können. Der Entwurf sah auch vor, dass die Kliniken, die kein INZ zugewiesen bekommen, mit einer Kürzung der Vergütung um 50% rechnen müssen, wenn sie trotzdem Notfälle behandeln.
In ihrer Stellungnahme machte die DIVI auf gravierende Mängel des Entwurfs aufmerksam. Die notfallmedizinischen Fachgesellschaften waren sich einig darin, dass die Festlegung eines Versorgungssektors erst am Ende einer Notfallbehandlung zu treffen ist. „Die Entscheidung, muss der Patient stationär aufgenommen werden oder nicht – die trifft man erst am Ende der Behandlung.“ Einig war man sich auch, dass die fachliche Leitung der INZ ausschließlich Ärzten mit der Zusatzqualifikation klinisch akute Notfallmedizin obliegt und dass die fachliche Leitung auch die medizinische Gesamtverantwortung für ein INZ beinhaltet.
Anfang Oktober teilte der Bundesgesundheitsminister dann mit, dass die umfangreiche Strukturreform der Notfallversorgung im Hinblick auf die Herausforderungen durch die Corona-Pandemie verschoben werde. So verschwand der Entwurf zunächst wieder.
GVWG: Eine Art Omnibus-Gesetz
Ende Oktober schließlich folgte der Entwurf des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG). „Das Gesetz ist so ein bisschen ein Omnibus-Gesetz – da ist alles eingestiegen, das noch verabschiedet werden musste“, sagte Pin.
Unter Punkt 20 wird im §120 folgende Änderung vorgeschlagen: „Zur Abklärung und Bewertung der Dringlichkeit der Behandlungsnotwendigkeit als auch zur Abrechnungsvoraussetzung der Leistung von Notfall-Ambulanzen hat die KBV bundesweit einheitliche Vorgaben und Qualitätsanforderungen zur Durchführung einer qualifizierten und standardisierten Ersteinschätzung zu erstellen und zwar zur ambulanten medizinischen Versorgung von Hilfesuchenden.“
„Das Besondere an diesem Gesetzesentwurf ist, dass die Abklärung und Bewertung der Dringlichkeit der Behandlungsnotwendigkeit gekoppelt wird an eine Abrechnungsvoraussetzung für die Leistung der Krankenhäuser.“ Konkret bedeute das, dass Patienten, bei denen die Ersteinschätzung ergab, dass sie nicht in der Notaufnahme behandelt werden müssen, nicht vergütet werden, wenn sie denn doch in der Notaufnahme behandelt werden, erklärte Pin.
Der Entwurf lasse einige Fragen offen: „Darf ein Patient überhaupt ohne Vergütung behandelt werden? Was machen wir mit einem Patienten um 2.30 Uhr morgens, der laut Ersteinschätzung durch das KV-System am nächsten Tag oder im Lauf der Woche zu seinem Hausarzt oder Facharzt gehen kann, der sich aber nicht wegschicken lässt, sondern jetzt direkt behandelt werden möchte?“
Wie Pin berichtete, lehnten bis auf die KBV alle Verbände – DIVI, Deutsche Gesellschaft für interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA), Ärztekammern und auch Marburger Bund – den Gesetzentwurf und §120 komplett ab. Gleichzeitig habe man noch mal die Personalqualifikation und die Voraussetzungen für das INZ (unmittelbarer Zugang zum Notfall-Labor, konventionelle radiologische Diagnostik, EKG-Gerät, Notfall-Sonografie etc.) hervorgehoben. Ziel des gemeinsamen Tresens müsse sein, „dass wir den Hochrisiko-Patienten identifizieren, der direkt in die Notaufnahme muss“.
Hat sich die Einschätzung nach Dringlichkeit und Bedarf erledigt?
Noch jedenfalls ist die Notfall-Reform nicht abgeschlossen. In welche Richtung sich das Ganze entwickeln wird, ist Pins Einschätzung nach offen. „Wovon wir immer ausgegangen sind – dass ein INZ auf dem Entwurf des Sachverständigenrates basiert, auch wenn sich Kleinigkeiten geändert haben – das wissen wir im Moment nicht mehr. Und die zentrale Anlaufstelle mit Tresen mit einer Ersteinschätzung nach Dringlichkeit und Bedarf, die hat sich, wenn dieses Gesetz mit dem §120 so durchkommt, eigentlich fast erledigt, konstatiere ich mal.“
Pin bezweifelt, dass die INZ unter den bisherigen Voraussetzungen sektorenübergreifend sein werden. „Ich glaube, so wie es sich jetzt entwickelt, sind sie das nicht. Dabei war das eigentlich ihr zentrales Ziel. Wie es jetzt aussieht, holt die Notfallreform die Sektorentrennung, die bisher außerhalb der Kliniken verlief, in die Kliniken rein. Ich glaube, das ist kein guter Weg zur besseren Versorgung unserer Patienten. Wir brauchen eine Reform der Notfallversorgung, die sich tatsächlich an den Bedürfnissen der Patienten und an den gesellschaftlichen Begebenheiten orientiert.“
Pin befürchtet, dass zusätzliche Strukturen geschaffen werden, die auch zu einer vermehrten Inanspruchnahme führen. „Es ist doch so: Ein Patient, der sich auf den Weg macht, weil er sich selbst als Notfall empfindet, der wird sich nicht wegschicken lassen. Und wenn er dann nicht in demselben Krankenhaus behandelt wird, dann wird er vielleicht in eine Klinik fahren, in der es kein INZ gibt und sich da behandeln lassen. Die grundsätzliche Idee hinter den INZ und die Zentralisierung waren ganz sicher gut“ – doch das, wonach es im Moment aussehe, „weist noch sehr großen Verbesserungsbedarf auf.“
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Diesen Artikel so zitieren: Reform der Notfall-Versorgung: Was wird aus den Integrierten Notfallzentren? - Medscape - 16. Dez 2020.
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