Anonyme Befragung von Ärzten und Pflegenden in Krankenhäusern zur Sterbehilfe: Alarmierende Zahlen

Christian Beneker

Interessenkonflikte

15. Dezember 2020

Mehr als die Hälfte der Ärzte (56,2%) und über ein Drittel der Pflegenden (35,1%) aus deutschen Kliniken, die im Herbst 2018 an einer Befragung teilnahmen, praktizierten in den vergangenen 24 Monaten passive Sterbehilfe. Indirekte Sterbehilfe leisteten in dem Zeitraum 27,38% der befragten Ärzte und 30,33% der befragten Pflegenden. Das ergibt eine Studie des emeritierten Professors für Psychiatrie und Psychotherapie von der Universität Witten Herdecke, Prof. em. Dr. Karl H. Beine, die jüngst in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift veröffentlicht wurde [1].

 
Letztlich soll unter den Teppich gekehrt werden, dass wir nicht genau wissen, wie die Lage bei den Patiententötungen in den Kliniken wirklich ist. Prof. em. Dr. Karl H. Beine
 

Die anonyme Online-Befragung, an der 2.507 Ärzte und 2.683 Pflegende teilnahmen, sollte erhellen, welche verschiedenen Formen der Sterbehilfe von der Ärzteschaft und den Pflegenden in deutschen Krankenhäusern praktiziert werden. Gemessen an allen Fällen von Sterbehilfe in den vergangenen 24 Monaten machten passive und indirekte Sterbehilfe in beiden Berufsgruppen einen Anteil von mehr als 98% aus, schreibt Beine.

Obwohl es sich um eine relativ große Stichprobe handelt, seien die Aussagen für deutsche Krankenhäuser nicht repräsentativ, so die Studie. Es brauche dazu repräsentative Stichproben, die den Unterschied zwischen indirekter, passiver Sterbehilfe berücksichtigt, die eine Beendigung des Lebens nicht zum Ziel hat, und der aktiven Sterbehilfe, die das Leben absichtlich beendet.

Alarmierende Entwicklung

Bedenklich findet Beine die Situation bei der aktiven Sterbehilfe. „Mich überraschen die Zahlen nicht, sie alarmieren mich aber“, sagt er zu Medscape. In den vergangenen 24 Monaten praktizierten 84 Ärzte und Ärztinnen (3,35%) und 65 Pfleger und Pflegerinnen (2,42%) aktive Sterbehilfe, so die Studie. Im Mittel gaben diese Befragten 2 Fälle in den zurückliegenden 2 Jahren an.

 
Das von allen Lebensumständen entkoppelte Recht auf den Suizid bedeutet einen Dammbruch. Prof. em. Dr. Karl H. Beine
 

Während ihres gesamten Beschäftigungszeitraums hätten „278 Ärzte und Ärztinnen (11,04%) und 117 Pfleger und Pflegerinnen (4,17%) das Leben eines Patienten aktiv beendet“, heißt es. Entweder wurden Medikamente zur Lebensbeendigung gegeben (in 61 Fällen bzw. 22,51% der Fälle), oder die Behandlung wurde zurückgehalten oder entzogen, um das Leben des Patienten zu beenden (in 210 Fällen bzw. 77,49% der Fälle).

Mehr noch: In 77 der insgesamt 680 Fälle von aktiver Sterbehilfe haben die befragten Untersuchungsteilnehmer angegeben, dass keine Einverständnis- oder Willenserklärung vorgelegen habe. In diesen Fällen wurde die aktive Sterbehilfe ohne Einwilligung des Betroffenen durchgeführt.

„Leider ordnen die Vertreter der Selbstverwaltung und etwa der Gesundheitsministerien die publik gewordenen Patiententötungen reflexartig als Einzelfälle ein“, sagt Beine zu Medscape. „Das sind aber unbewiesene Behauptungen! Letztlich soll unter den Teppich gekehrt werden, dass wir nicht genau wissen, wie die Lage bei den Patiententötungen in den Kliniken wirklich ist.“

 
Die Assistenz beim Suizid droht zum Geschäftsmodell zu werden. Prof. em. Dr. Karl H. Beine
 

Beine verwies auf die Diskussion vor 2 Jahren um die Patiententötungen durch den Krankenpfleger Niels Högel in Delmenhorst und Oldenburg ( Medscape berichtete ). „Auch damals war von Einzelfällen die Rede, die sich nicht wiederholen könnten“, sagt Beine. „Dabei sind Patiententötungen seither 3-mal bekannt geworden – in Völklingen und München durch Pfleger und erst kürzlich wieder in Essen, diesmal durch einen Arzt.“

Assistierter Suizid muss ärztliche Aufgabe sein

Die überwiegende Anzahl der Ärztinnen und Ärzte lehnt die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe ab. Aber die Mehrzahl der Pflegenden stimmt ihr zu.

Den assistierten Suizid praktizierten in 24 Monaten danach 7 Ärztinnen und Ärzte in mindestens einem Fall, so die Studie. Das sind 0,29% der Befragten. Bei den Pflegerinnen und Pflegern lag dieser Wert bei 24, beziehungsweise 0,98 %.

 
Wer viel mit suizidalen Menschen im Kontakt ist, der weiß um die Ambivalenz und die Schwankungen im Entscheidungsprozess. Prof. em. Dr. Karl H. Beine
 

Seitdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Februar 2020 den Paragrafen 217 StGB gekippt hat, köchelt die Debatte um den assistierten Suizid weiter ( Medscape berichtete ). Der Paragraf verbot den geschäftsmäßigen assistierten Suizid.

Beine kritisierte gegenüber Medscape die Entscheidung, den § 217 StGB zu streichen. „Das von allen Lebensumständen entkoppelte Recht auf den Suizid bedeutet einen Dammbruch. Die Hemmschwelle für die Beseitigung von menschlichem Leben wird so deutlich gesenkt“, begründet er seine Kritik. „Jetzt gibt es einen Rechtsanspruch auf den eigenen Suizid. Die Assistenz beim Suizid droht zum Geschäftsmodell zu werden.“

Entscheidungen am tatsächlichen oder vermeintlichen Lebensende würden durch Rechtsansprüche nicht leichter, so Beine. „Wer viel mit suizidalen Menschen im Kontakt ist, der weiß um die Ambivalenz und die Schwankungen im Entscheidungsprozess. Wenn alle, die schon einmal ernsthafte Suizidabsichten hatten, plötzlich nicht mehr da wären, dann wäre es hier ziemlich leer.“

Einem Patienten, der wegen eines hohen Querschnitts sterben will, würde sicher mancher Arzt beim Suizid assistieren. Vorausgesetzt, er hätte zusammen mit Patienten, Angehörigen und Kollegen die Entscheidung sorgfältig abgewogen getroffen – auch ohne Rechtsanspruch, so Beine.

 
Wenn es überhaupt getan werden muss, dann sollen es bitte Ärzte tun. Prof. em. Dr. Karl H. Beine
 

Allerdings müssten die Ärzte dazu besser gerüstet sein, meint er. So schreibt er in der Studie: „Entsprechende Förderung palliativmedizinischer Weiterbildungen für alle medizinischen Berufsgruppen mit häufigem Kontakt zu Sterbenden und ein offener Austausch unter ihnen könnten daher sinnvolle Möglichkeiten darstellen, um im Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende eine humane Sterbebegleitung zu verwirklichen.“

Nicht zuletzt wegen dieser Position betont Beine, dass Assistenz beim Suizid grundsätzlich nur von Ärzten geleistet werden dürfe, eingebettet in die Arzt-Patienten-Beziehung. „Wenn es überhaupt getan werden muss, dann sollen es bitte Ärzte tun“, sagt er. „Denn nur sie können geäußerten Wünsche eines Menschen am ehesten zuverlässig einordnen.“
 

Kommentar

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