In einem Richtungspapier geben 4 Experten aus dem Gesundheitswesen – als Lehren aus der Corona-Pandemie – Empfehlungen für künftige Reformen. Das Papier wurde im Auftrag des Barmer Instituts für Gesundheitssystemforschung (bifg), der Bertelsmann Stiftung und der Robert Bosch Stiftung angefertigt [1].
Maßnahmen im ambulanten Sektor
Nach dem Richtungspapier sollten im ambulanten Sektor Videobehandlungen und die Krankschreibung per Telefon „zumindest in geeigneten Fällen als Teil der Routineversorgung dauerhaft verstetigt werden“. Auch ein Home-Telemonitoring von besonderen Patientengruppen könnte verstärkt in das Aufgabengebiet der Vertragsärzte fallen.
Zunehmend müsse der ambulante Sektor in Zentren übergehen, schlug Gesundheitsökonom Prof. Dr. Reinhard Busse, einer der Autoren, bei der Vorstellung des Papiers vor. Das gehe auch mit längeren Praxis-Öffnungszeiten einher. Busse denkt dabei an 12 Stunden am Tag. Das würde die Notfallambulanzen an den Krankenhäusern entlasten.
Stärkere Verzahnung der Sektoren
Die Autoren machen sich außerdem für eine stärkere Verzahnung und Überwindung der Sektoren stark. Grundversorger sollten „eine definierte Rolle im Rahmen einer lokal koordinierten Gesundheitsversorgung im Team mit Hausärzten, Therapeuten, Rehabilitationsangeboten, Pflegediensten und Pflegeheimen spielen. Zur Kompetenzerweiterung sollte das Versorgungszentrum (telemedizinisch) eng vernetzt mit einem regionalen Regelversorger sein.“
Ferner schlägt Krankenhausexperte Prof. Dr. Boris Augurzky regionale Gesundheitsbudgets und Vorhaltefinanzierungen vor, die das DRG-System ergänzen sollen. Notwendig seien aber eine Zentralisierung und Spezialisierung der Kliniklandschaft.
Öffentlichen Gesundheitsdienst stärken
Dass die Politik den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) fördern will, begrüßt Prof. Dr. Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrats Gesundheit. Er denkt aber weiter. „Wenn wir den Öffentlichen Gesundheitsdienst aufgerüstet haben, muss er ein wissenschaftliches Fundament bekommen.“ Außerdem gelte es zu klären, welche Rolle der ÖGD künftig übernimmt.
Um „den ÖGD als eine tragende 3. Säule im Gesundheitssystem und in der präventiven Gesundheitsversorgung in Deutschland, auch über die Pandemie hinaus, zu stärken, muss insbesondere die Public-Health-Perspektive innerhalb des ÖGD, aber auch in Lehrinhalten des Medizinstudiums geschärft werden“, so die Autoren.
Pflegefachpersonen können mehr, als das System ihnen zutraut
Für die heilkundliche Übertragung gewisser Aufgaben auf Pflegeberufe in der Primärversorgung macht sich die Gesundheits- und Pflegewissenschaftlerin Prof. Dr. Gabriele Meyer stark – besonders in ländlichen Regionen, in denen die ambulant-ärztliche Versorgung zunehmend verschwinde.
Ein einheitliches Heilberufe-Gesetz könne die Grundlage für die unterschiedlich zugeteilten Aufgaben und Tätigkeitsbereiche der Pflege schaffen, so die Autoren: „Hierin könnte auch eine eigenständige Leistungserbringung mit geregelter Vergütung festgeschrieben sowie die Kooperation zwischen den Pflegefachpersonen und anderen Gesundheitsberufen (auch haftungsrechtlich) geregelt werden.“
Digitalisierung des Gesundheitswesens
All diese Visionen lassen sich nach Meinung der Autoren durch die Digitalisierung effektiver und effizienter verwirklichen. Datensicherheit und Datenschutz seien zwar essenziell, der Nutzen dürfe aber nicht darunter leiden, wünscht sich Gerlach. Seine Devise: „Daten teilen heißt besser heilen.“
Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Univadis.de.
Medscape Nachrichten © 2020
Diesen Artikel so zitieren: Praxen 12 Stunden am Tag öffnen? Expertenpapier zu Lehren aus der Corona-Krise - Medscape - 2. Dez 2020.
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