Zentral wirksame Medikamente werden in Alten- und Pflegeheimen einer Studie von Rechtsmedizinern zufolge offenbar nicht allein aus medizinischen Gründen gegeben. Die Studie ergab mehrere Hinweise auf eine Nutzung von Psychopharmaka als „freiheitsentziehende Maßnahme“.
Bei einem erheblichen Anteil der nachgewiesenen Hypnotika/Sedativa und Antipsychotika habe es keine nachvollziehbare ärztliche Indikation für deren z. T. auch kombinierte Verordnung gegeben, berichten PD Dr. Sabine Gleich vom Institut für Rechtsmedizin der LMU-München und ihre Kollegen in der Zeitschrift Rechtsmedizin [1].
Nutzung von Psychopharmaka als „pflegeerleichternde“ Maßnahme?
Die meisten Pflegeheim-Bewohner haben mehrere chronische Erkrankungen und oft auch Demenz-Symptome. Der Betreuungsaufwand dieser Menschen ist erheblich, die Belastung für das Personal daher groß. Verstärkt wird das Problem außerdem durch einen Mangel an qualifizierten Pflegekräften. Eine mögliche Folge ist Gewalt gegen die alten Menschen, etwa freiheitsentziehende Maßnahmen. Hierzu könnten mechanische Fixierungen oder ruhigstellende Medikamente eingesetzt werden.
Eine Diskussion über die Nutzung von Psychopharmaka als „pflegeerleichternde“ bzw. freiheitsentziehende Maßnahme in stationären Pflegeeinrichtungen besteht nach Angaben der Autoren seit Jahren. Eine 2013 bis 2014 durchgeführte Erhebung der Münchner Heimaufsicht sei zu der abschließenden Beurteilung gekommen, dass die Gabe von Psychopharmaka zum Alltag in der Pflege zähle und strukturelle Defizite der Einrichtungen dadurch ausgeglichen werden sollten. Weitere Studien bestätigten diese Einschätzung.
Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe um die Rechtsmedizinerin Gleich ist nun in einer Studie der Frage nachgegangen, ob bzw. welche Hinweise es auf eine Nutzung von Psychopharmaka als freiheitsentziehende Maßnahme (FEM) gibt.
98 Heimbewohner erfasst
In der Studie erfasst wurden 98 in Alten-/Pflegeheimen gestorbene Bewohner ohne Verdacht auf eine Medikamentenüberdosierung, die 2013 bis 2015 im Institut für Rechtsmedizin der Universität München obduziert wurden. Ausgewertet wurden die makromorphologischen Befunde, staatsanwaltschaftliche Akten und Labor-Befunde.
Knapp 2 Drittel der 98 Altenheim-Bewohner waren Frauen, das mittlere Alter betrug 84 Jahre (Minimum 19 Jahre, Maximum 99 Jahre, Median 84 Jahre). Die meisten hatten mehrere Erkrankungen, am häufigsten ZNS-Erkrankungen (75 Fälle) und psychische Erkrankungen (19 Fälle).
Nicht verordnete Antipsychotika nachgewiesen
Bei 53 der 98 gestorben Alten- bzw. Pflegeheim-Bewohner gab es aktuelle Medikationspläne, bei 37 bestanden Abweichungen vom Medikationsplan. Bei 15 Gestorbenen wurden zum Todeszeitpunkt nicht verordnete Antipsychotika nachgewiesen, davon bei 5 Personen zusätzlich nicht verordnete Hypnotika/Sedativa.
Bei 9 der 53 Personen mit nachgewiesenen Antipsychotika war die ärztliche Indikation zur Verordnung dieser Wirkstoffe nicht nachvollziehbar, bei den 26 Gestorbenen mit Hypnotika/Sedativa waren es 8 Personen ohne nachvollziehbare Verordnung.
Bei 22 gestorbenen Heim-Bewohnern mit nachgewiesenen Antipsychotika erfolgte die Abgabe abends, bei 9 Personen mit Hypnotika/Sedativa morgens.
Durch Haaranalysen wurden im Dreimonatszeitraum vor dem Tod Antipsychotika als häufigste Wirkstoffgruppe nachgewiesen; außerdem waren Antipsychotika mit durchschnittlich 3 Wirkstoffen pro Person auch die Arzneistoffe, die am häufigsten eingesetzt wurden.
Hinweise auf Medikamente als freiheitsentziehende Maßnahme
In dieser Studie ist es erstmals gelungen, die Frage zu beantworten, „ob Medikamente als FEM in stationären Pflegeeinrichtungen eingesetzt werden“, schreiben Gleich und ihre Kollegen. Die Untersuchung habe mehrere Hinweise auf eine solche Nutzung ergeben.
Bei einem erheblichen Anteil der nachgewiesenen Hypnotika/Sedativa und Antipsychotika bestand keine nachvollziehbare ärztliche Indikation für deren z. T. auch kombinierte Verordnung; es überwogen Substanzen mit sedierenden Eigenschaften. Darüber hinaus sind nicht ärztlich verordnete zentral wirksame Substanzen „in bedenklich hoher Anzahl nachgewiesen“ worden, „welche deutlich über den Ergebnissen der Prüfberichte des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) in der stationären Pflege liegt.“ Einen noch stärkeren Effekt habe die Analyse der Haarproben ergeben.
Kritisch sei hier der hohe Anteil von Hypnotika mit Abhängigkeits- und Suchtpotenzial zu bewerten, so die Autoren. Es hat sich gezeigt, dass Leitlinien der Fachgesellschaften zur Verordnung zentral wirksamer Substanzen von den behandelnden Ärzten nur unzureichend berücksichtigt wurden.
Auch Betreiber von Einrichtungen dafür verantwortlich
Kritik an der derzeitigen Praxis der Verordnung von Psychopharmaka und an der Tatsache, dass keine nicht-medikamentösen Verfahren eingesetzt werden, wird den Autoren zufolge seit Jahren geübt.
Verantwortlich dafür scheinen laut Gleich und ihren Mitautoren nicht nur die Berufsgruppen der Ärzte zu sein, sondern auch die Betreiber der Einrichtungen. Psychopharmaka könnten für die Heime finanziell günstiger als nicht-medikamentöse Verfahren sein, da Medikamente durch die Krankenkassen vergütet würden. Nicht-medikamentöse Verfahren seien dagegen von den Einrichtungen selbst zu tragen; darüber hinaus seien sie zeitaufwendig und personalintensiv.
Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Univadis.de.
Medscape Nachrichten © 2020 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Weiterhin ein Problem: Psychopharmaka-Verordnungen in Pflegeheimen ohne nachvollziehbare Indikation - Medscape - 1. Dez 2020.
Kommentar