Dass die Corona-Krise auch psychisch eine Belastung für viele Menschen ist, wurde schon früh erkannt. Das muss aber nicht zwangsläufig zu mehr psychischen Erkrankungen oder Suiziden führen – darauf weisen ein Meinungsartikel und eine Beobachtungsstudie im JAMA Psychiatry hin [1,2].
Die Autoren aus den Niederlanden und den USA fordern Psychiater und die entsprechenden Organisationen auf, aktiv zu werden, um Risiken für Menschen mit und ohne psychische Vorbelastungen zu minimieren.
Für Dr. Ernst Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, ist dabei auch die Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen entscheidend: „Hier profitieren wir in Deutschland davon, dass sich schon vor der Pandemie einiges verbessert hatte“, sagt Munz gegenüber Medscape.
Mehr seelische Belastung, mehr Inanspruchnahme von Hilfsangeboten
Das Virus beinhaltet ohne Frage Risiken auch für die seelische Gesundheit, so die Autoren. Zum einen direkt, weil es Ängste vor Infektion und Krankheit auslöst. Und indirekt durch den Wegfall sozialer Kontakte und eventuell finanzieller Einbußen.
Und dann verschärfe es oft auch noch Risikofaktoren, die schon vor der Pandemie bestanden wie etwa Alkoholmissbrauch, exzessives Computerspielen, aber auch systemische Probleme, wie die Tatsache, dass es nicht genügend kurzfristige Hilfsangebote bei psychischen Erkrankungen gibt. In Umfragen in den USA gaben im Mai 39% der Personen an, dass die Krise eine negative Wirkung auf ihre Psyche hat. Im Juni waren es schon 53%.
Zugleich gab es aber auch Faktoren, die sich verbessert haben, betont Autorin Dr. Christine Moutier, Chief Medical Officer bei der American Foundation for Suicide Prevention: „Die Menschen haben verstärkt psychische Hilfe gesucht und Kontakt zu Institutionen aufgenommen, die solche Hilfe anbieten.“ Das wiederum sei erwiesenermaßen ein Faktor, der beispielsweise vor Suizid schütze.
Munz verweist auf Berichte von psychiatrischen Ambulanzen, nach denen mehr Menschen in suizidalen Krisen Hilfe gesucht haben. Auch die Nachfrage bei niedergelassenen Psychotherapeuten habe zugenommen: „Offenbar ist die Schwelle, Hilfe zu suchen, gesunken – das ist eine sehr positive Entwicklung.“ Dr. Jurjen J. Luykx von der Universität Utrecht und seine Kollegen sehen die Krise dennoch als einen „Imperativ für Psychiater, aktiv zu werden.“
Was Psychotherapeuten tun können
Zum einen gelte es, Behandlungen nicht zu unterbrechen und auch Notfallbehandlungen über Video und Telefon möglich zu machen. Niedergelassene Kollegen könnten so auch die Anlaufstellen in den Kliniken entlasten.
Dabei sollte man genau auf entstehende oder sich verschlechternde Risikofaktoren achten. Wichtig sei auch das Thema seelische Gesundheit in der Quarantäne: „Wir sollten verstärkt Informationen verbreiten, welche Stressoren in einer Quarantäne auftreten können und wie man generell sein Wohlbefinden schützen kann“, so Luyks.
Dabei sollten Patienten mit psychischen Einschränkungen aber auch offen ansprechen können, wenn es ihnen schwerfällt, die Quarantänevorgaben einzuhalten. „Insbesondere für Patienten mit psychotischer Symptomatik kann es schwierig sein, zwischen realen Informationen und Fake News zu unterscheiden.“
Bisher keine Hinweise auf Anstieg von Suiziden
Die Zahl an Suiziden scheint bisher, entgegen Befürchtungen zu Beginn der Pandemie, nicht anzusteigen. Darauf weisen erste Daten hin. „Allerdings liefern die meisten nationalen Surveillanceprogramme keine Echtzeit-Daten“, sagt Moutier.
Die US-amerikanischen Centers for Disease Control (CDC) haben im August 2020 eine Erhebung gestartet. Danach hatte rund jeder 10. Erwachsene in den letzten 30 Tagen Suizidgedanken. Die Reduktion persönlicher Kontakte sei naturgemäß ein hoher Risikofaktor. Diesen gelte es zu minimieren: „Kontakte und virtuelle Check-Ins sollten systematisch organisiert werden“, so Moutier.
Suizidprävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Studien aus der Zeit vor der Pandemie zeigten, dass Briefe, Karten, Anrufe oder E-Mails bei Hochrisikopersonen die Zahl der Suizidversuche um 50 bis 60% senken können: „Simpler menschlicher Kontakt kann nicht unterschätzt werden als ein wirksamer Weg, um ein Gefühl von Verbundenheit herzustellen, das für manche lebensrettend sein kann.“
Ob es durch COVID 19 mehr Suizide geben wird, hänge deshalb davon ab, welche Maßnahmen Politik, Gesundheitswesen und die Gesellschaft insgesamt nun ergreifen, betont Moutier: „Dies ist ein Moment in der Geschichte, an dem Suizidprävention als ein wichtiges Thema für die öffentliche Gesundheit Priorität haben muss.“ Auch für Munz zeigt die Pandemie: „Wir dürfen in der Suizidprävention nicht nachlassen.“
Manche psychischen Auswirkungen werden unter Umständen aber auch erst im Nachgang der Pandemie deutlich, betonen Luykx und Kollegen: „Langfristige wirtschaftliche Effekte könnten dazu führen, dass mehr Menschen gefährdet sind, psychisch zu erkranken.“
Menschen, die infiziert waren, haben damit vielleicht auch psychisch zu kämpfen, sagt Munz: „Wenn man jemanden angesteckt hat, kann es zu Schuldgefühlen kommen, die auch länger anhalten können.“ Grundsätzlich sei es immer besser, früh Hilfe zu holen als später. Dabei könnten auch Hausärzte helfen, indem sie Patienten nach psychischen Beschwerden fragen und auf Angebote hinweisen.
Medscape Nachrichten © 2020 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Von der Corona-Krise in die Psycho-Krise? Wie sich seelischen Leiden und Suiziden vorbeugen lässt - Medscape - 26. Nov 2020.
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