Wie in jedem Jahr seit 2016 präsentiert die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) auch 2020 den aktuellen Bürokratie-Index, der die Last mit dem „Papierkram“ in der Praxis abbilden soll [1]. Die Fachhochschule des Mittelstands (FHM) hat die Daten erhoben. Untertitel: „Belastung transparent machen, Bürokratie abbauen.“
Dass der Index seit der ersten Erhebung 2013 von 100 auf rund 96 gesunken ist, komme bei den Praxen kaum an, sagt allerdings Helmut Scherbeitz, bei der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) zuständig für den Bürokratie-Abbau. So dürfte es auch die Niedergelassenen nicht spürbar geschmerzt haben, dass der Index seit vergangenem Jahr um 1,3% gestiegen ist. „Es geht vor allem darum, mit dem Index zu zeigen, welche ungeheure Menge an Bürokratie in den Arztpraxen anfällt“, sagt Scherbeitz.
Tatsächlich saßen Deutschlands niedergelassene Ärzte im Jahr 2020 sagenhafte 55,76 Millionen Stunden über ihren Papieren. Das sind 715.000 Netto-Arbeitsstunden oder 1,3% mehr als im Vorjahr. „Umgerechnet bedeutet das einen zusätzlichen Tag Mehraufwand pro Praxis im Jahr – zusammengenommen also 61 Tage, die im Schnitt für Bürokratie aufgewendet werden“, sagt Prof. Dr. Volker Wittberg von der FHM. Insgesamt kostete es sie knapp 31 Millionen Euro.
AU-Scheine fallen am schwersten ins Gewicht
Der Grund für den neuerlichen Anstieg liege aber nicht in den Anstrengungen, die Corona-Krise in den Griff zu bekommen (die meisten Zahlen für 2020 liegen noch nicht vor), sondern in der höheren Morbidität allgemein und einer höheren Beschäftigungsquote und damit mehr Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigungen, resümiert KBV-Vorstandsmitglied Dr. Thomas Kriedel.
Diese AU-Bescheinigungen bilden mit rund 561.000 Nettoarbeitsstunden im Jahr 2020 den größten Anteil am Bürokratie-Wust. „Schon vor Corona führten die hohe Beschäftigungsquote und das steigende Durchschnittsalter der Beschäftigten zu einem tendenziell höheren Krankenstand, sodass mehr AU-Bescheinigungen ausgestellt werden mussten“, so die KBV.
Auf dem 2. Platz lag mit rund 410.000 Arbeitsstunden die Foto- und Bilddokumentation,
gefolgt von den Verordnungen für eine Krankenbeförderung von rund 210.000 Arbeitsstunden.
Trotz noch unvollständiger Daten sei klar: Die Corona-Krise habe mehr Bürokratie in die Praxen gebracht. Das hätten Fokusgruppen-Interviews gezeigt, in denen mit Haus- und Fachärzten aus ganz Deutschland die Erfahrungen der Praxen im Umgang mit SARS-CoV-2 thematisiert worden seien, so Kriedel. „Angesichts der zusätzlichen Corona-Patienten und der damit zusammenhängenden Testverfahren und neuen Formulare hat die Pandemie den Praxisalltag stark beeinflusst“, so die KBV. Auch verschlimmerten sich zum Beispiel bei vielen Patienten durch die Krise psychische Krankheiten, was den niedergelassenen Ärzten und Psychotherapeuten mehr Verwaltungsarbeit brachte.
Offen ist, ob die Digitalisierung in den Praxen tatsächlich die Bürokratie zurückdrängen kann. „Bei der elektronischen Patientenakte oder beim Medikationsplan etwa sind zunächst viele Gespräche mit den Patienten zu leisten“, sagt Scherbeitz. „Das dauert und schlägt auf das Bürokratiekonto. Zeiteinsparungen bringt die Digitalisierung bestenfalls erst in einigen Jahren.“
Index erfasst nur einen Teil der Bürokratie
Der Bürokratie-Index ermittelt, wie viel Zeit die niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten im Jahr für die Erfüllung bürokratischer Pflichten aufbringen müssen. Dass damit die Bürokratie in den Praxen realistisch abgebildet wird, bezweifelt Scherbeitz. Weil es überhaupt schwer ist, die Bürokratie zu messen, greift die KBV auf die Informationspflichten zurück und zählt, wie viel Aufwand mit einer Meldung verbunden ist, etwa bei den AU-Tagen.
„Interne Prozesse dagegen, zum Beispiel beim Einhalten der Hygienevorschriften, oder die Aufklärung eines Patienten über seine bevorstehenden OP sind schwer zu definieren und zu quantifizieren. Deshalb schlagen sie sich nicht im Index nieder“, sagt Scherbeitz. Kurz: Der Tatsächliche Aufwand in den Praxen dürfte höher liegen als der Index anzeigt.
Der KVN-Beauftragte bedauert, dass es bisher zu keinen nachhaltigen Entlastungen der Praxen gekommen ist. Denn die wirklich großen Themen würden nicht angefasst, zum Beispiel die AU-Bescheinigungen. „Ich kenne kein Land in Europa, wo bereits am ersten Tag einer Krankheit ein AU-Schein beigebracht werden muss“, sagt Scherbeitz. „Fiele nur dieser Posten bei uns weg, wäre die Entlastung schon erheblich.“
Die KBV plädiert unterdessen dafür, die Notwendigkeit einer Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung bei Bagatellerkrankungen mit einer Dauer von unter 3 bis 5 Tagen entfallen zu lassen, wie sie mitteilt.
Scherbeitz sieht unterdessen kaum Chancen für nachhaltigen Bürokratieabbau. Die Dokumentation der Qualitätssicherung zum Beispiel müssten immer noch nicht nur in der Praxis gespeichert werden, sondern auch bei den Krankenkassen. „Wenn wir eine Vertrauenskultur hätten mit den Krankenkassen, so würde die Dokumentation der Qualitätssicherung in den Praxen völlig ausreichen“, resümiert Scherbeitz. „Leider sehe ich keine Perspektive für diese Vertrauenskultur.“
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Diesen Artikel so zitieren: Bürokratie-Index der KBV: Niedergelassene fast 56 Millionen Stunden mit „Papierkram“ beschäftigt - Medscape - 25. Nov 2020.
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