Hintergrund
Ein 36-jähriger Mann wird in die Notaufnahme der städtischen Klinik eingewiesen, wo er vorübergehend in der geschlossenen Psychiatrie untergebracht wurde. Der Patient hatte während eines Streits mit seiner Lebensgefährtin völlig die Kontrolle über sich verloren.
Er war unangemessen wütend geworden, schrie in einem fort herum, warf mit Gegenständen um sich und zertrümmerte sein Handy. Dann fügte er sich mit einer Rasierklinge zahlreiche oberflächliche Schnitte an der Innenseite seiner beiden Unterarme zu. An diesem Punkt riefen seine besorgten Adoptiveltern den diensthabenden Notarzt.
Beim Aufnahmegespräch gab der Patient an, sich bereits früher bei verschiedenen Anlässen selbst verletzt zu haben, etwa indem er sich schlug oder mit einem Zigarettenanzünder aus dem Auto an verschiedenen Körperstellen Verbrennungen beibrachte.
Auf die Frage, worüber er derart die Fassung verloren habe, antwortete er: „Alle hassen mich, alle verlassen mich!“ Dann wurde er auch dem Untersucher gegenüber feindselig und sagte: „Der andere Arzt war viel besser als Sie. Menschen wie Sie sind der Grund dafür, dass ich mich selbst verletzen will!“ Eine kurze Durchsicht der Krankenhausakten zeigte, dass der Patient in den letzten Jahren bereits mehrmals wegen vergleichbarer Zustände dort in ärztlicher Behandlung war.
Bei der Nachuntersuchung zeigt sich, dass Konflikte in seinen persönlichen Beziehungen an der Tagesordnung sind. Er sagt: „Ich weiß nicht einmal mehr, wer ich bin. Ich werde von allen Menschen nur benutzt.“ Der Patient gibt an, dass er sich häufig rücksichtslos verhält, und erklärt dazu: „Manchmal suche ich mir Dates über eine Kontakt-App, damit ich überhaupt noch mal etwas empfinde. Danach fühle ich mich jedoch immer nur leer.“
Wenn er keinen guten Tag hat, isst er nichts. Seine Stimmungen sind sehr instabil. Er erzählt: „An manchen Tagen fühlt es sich an, als sei alles fantastisch und die Welt wunderbar, doch kann das innerhalb weniger Stunden oder eines Tages kippen, und ich wache dann morgens auf, nur um festzustellen, dass eigentlich alles ziemlich scheiße ist.“ Auf die Frage, wie lange er diese Zustände und Schwankungen habe, sagt er: „Ich bin schon immer so gewesen.“
Der Patient hat gelegentlich Schwierigkeiten, einzuschlafen. Andererseits hat er immer das Bedürfnis und auch den Wunsch, zu schlafen. Mitunter sei er dazu aber einfach nicht in der Lage. Auf die Frage, ob er schon einmal einen Selbstmordversuch unternommen habe, erzählt er: „Einmal habe ich 10 Ibuprofen genommen, um meinen Eltern zu zeigen, wie hasserfüllt sie sind.“
Aktuell habe er solche Gedanken oder Pläne jedoch nicht. Er sagt aber auch: „Manchmal werde ich ganz müde und will dann einfach gar nichts mehr fühlen. Für mich ist alles immer heiß oder kalt. Es gibt nichts in der Mitte.“ Auf die Frage nach seinen Eltern und seiner Lebensgefährtin sagt er: „Ich möchte ihnen eigentlich nicht wehtun, aber ich wünsche mir, dass sie sich schlecht fühlen, wenn ich mich ritze.“
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Diesen Artikel so zitieren: Fall: „Alle hassen mich!“ Warum flippt dieser junge Mann immer wieder aus und schneidet sich in die Arme? - Medscape - 19. Nov 2020.
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