Dallas – Von Patienten häufig beklagte Nebenwirkungen der Statine werden offenbar meist nicht durch das Medikament selbst ausgelöst, sondern beruhen vermutlich auf einem Nocebo-Effekt. Nach den Ergebnissen der SAMSON-Studie berichten die Patienten 90% der „Statin-bedingten“ Nebenwirkungen auch bei Einnahme von Placebo.
„Die Nebenwirkungen von Statinen werden vor allem durch den Vorgang der Tabletteneinnahme ausgelöst, nicht durch die Inhaltsstoffe der Tablette“, so die Schlussfolgerung von Dr. James Howard, Imperial College London, bei der Vorstellung der Studienergebnisse in einer Late-Breaking-Science-Sitzung bei den virtuellen Scientific Sessions 2020 der American Heart Association (AHA) [1]. Parallel erschienen sie als Brief im New England Journal of Medicine[2].
Diskutantin Prof. Dr. Francine K. Welty, Harvard Medical School, Boston, wies darauf hin, dass nur Patienten in die Studie aufgenommen worden waren, die innerhalb von 2 Wochen nach Beginn der Statin-Behandlung so schwere Nebenwirkungen berichtet hatten, dass sie die Einnahme abgebrochen haben. In der Praxis würden viele Patienten erst später als 2 Wochen nach Therapiebeginn über Nebenwirkungen klagen – diese Befunde der englischen Arbeitsgruppe könnten also nicht verallgemeinert werden.
Welty erinnerte, dass nicht mit der Medikation direkt assoziierte Nebenwirkungen häufig in den ersten 2 Wochen der Behandlung am stärksten wären und sich dann im Verlauf der weiteren Therapie abschwächen würden. Als Beispiel nannte sie den bei Metformin-Behandlung auftretenden Durchfall und die bei Betablocker-Therapie vorkommende Müdigkeit, an die sich die Patienten gewöhnen würden.
Vergleich von Verum, Placebo und keiner Therapie
Patienten setzen Statine häufig wegen Nebenwirkungen ab, obwohl in verblindeten Studien im Vergleich zu Placebo nicht mehr Patienten die Therapie abbrachen.
Die britische Arbeitsgruppe versuchte nun mit einer N-of-1-Studie diesen Widerspruch aufzuklären. „Einem Patienten, der unter einem Statin an Nebenwirkungen leidet, hilft die Erfahrung von Tausenden anderer Patienten aus Placebo-kontrollierten Studien nicht. Die Schlüsselfrage für ihn ist: Warum passiert mir das?“, erläuterte Howard.
In die Studie wurden 60 Patienten im Durchschnittsalter von 60 Jahren aufgenommen, die innerhalb von 2 Wochen nach Therapiebeginn eine Statin-Behandlung wegen Nebenwirkungen abgebrochen hatten. Diese kurze Zeitspanne wurde gewählt, damit in der Studie Einnahmeblocks von einem Monat gewählt werden konnten. Häufigste Gründe für den Therapieabbruch waren Muskelschmerzen (60%), Müdigkeit (15%) und Krämpfe (10%).
In der 3-armigen randomisierten doppelblinden, Placebo-kontrollierten Studie erhielten die Patienten 12 Behälter mit jeweils einem Monatsbedarf an Tabletten. 4 Behälter enthielten Atorvastatin-20 mg-Tabletten, 4 Behälter enthielten Placebo, und 4 Behälter waren leer. Mit Hilfe des leeren Behälters sollte der Placebo- bzw. Nocebo-Effekt erfasst werden können.
Jeder Patient verwendete die Behälter in einer computergenerierten Reihenfolge über 1 Jahr. 49 Patienten durchliefen alle 12 Monate der Studie.
Täglich erfassten die Patienten mit einer Smartphone-App das Ausmaß ihrer Symptome auf einer Skala von 0 (keine Symptome) bis 100 (schwere Symptome). Bei Einnahme von Tabletten mussten sie auch ein Absetzen der Therapie wegen nicht tolerabler Nebenwirkungen angeben.
Symptom-Score mit Statin und Placebo fast gleich hoch
Nach 12 Monaten gaben die Patienten in den 4 Monaten ohne Behandlung einen Symptom-Score-Wert von 8,0 an, bei Einnahme von Placebo von 15,4 und bei Einnahme von Atorvastatin von 16,3. Hieraus errechnete die Arbeitsgruppe eine Nocebo-Ratio von 0,9. Dies bedeutet, dass 90% der Symptomatik, die die Patienten unter Atorvastatin angaben, auch bei Einnahme von Placebo auftrat.
Die Patienten konnten dann selbst anhand der Ergebnisse das überraschend große Ausmaß des Nocebo-Effekts sehen. Dies führte dazu, dass die Hälfte der Patienten die Statine erneut einnahm.
Medscape Nachrichten © 2020 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Muskelschmerzen durch Statin? SAMSON-Studie zeigt: Nebenwirkungen sind oft durch Nocebo-Effekt bedingt - Medscape - 19. Nov 2020.
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