Das Ergebnis aus einigen früheren Studien, nach denen eine aktive Freizeitgestaltung im mittleren Alter dazu beiträgt, das spätere Demenzrisiko zu senken, wird jetzt von neuen Untersuchungen wieder infrage gestellt.
Die aktuelle Studie konnte keinen Zusammenhang zwischen der Teilnahme an mehr Freizeitaktivitäten im Alter von 56 Jahren und dem Risiko, in den folgenden 18 Lebensjahren an Demenz zu erkranken, feststellen. Es gab einen gewissen Benefit, wenn die Teilnahme an Freizeitaktivitäten in einem etwas höheren Alter bewertet wurde. Die Studie wurde Ende Oktober in Neurology online veröffentlicht [1].
„Natürlich gibt es viele gute Gründe an Freizeitaktivitäten teilzunehmen, und dieses Ergebnis stellt auch nicht infrage, wie wichtig es für die allgemeine Gesundheit und das Wohlbefinden ist, aktiv zu bleiben. Aber es legt eben nahe, dass eine bloße Steigerung der Freizeitaktivitäten möglicherweise keine Strategie zur Prävention einer Demenz darstellt“, erläutert Dr. Andrew Sommerlad vom britischen University College London und Mitwirkender an der Studie in einer Pressemitteilung.
Die Studie zeigte auch, dass manche Menschen, bei denen später eine Demenz diagnostiziert wurde, schon Jahre vor der Diagnose aufgehört hatten, aktiv die Freizeit zu gestalten. Dies deutet darauf hin, dass Veränderungen im Umfang der Freizeitaktivitäten ein frühes Anzeichen für eine Demenz sein könnten. „Die Demenz schien eher die Ursache als die Folge eines niedrigen Niveaus an Freizeitaktivitäten zu sein“, sagt Sommerlad gegenüber Medscape.
Beobachtung über 18 Jahre
An der Studie nahmen 8.280 Erwachsene teil (Durchschnittsalter 56 Jahre), die im Rahmen der Whitehall-II-Studie durchschnittlich 18 Jahre lang nachverfolgt wurden. Die Teilnehmer machten zu Beginn der Studie, 5 Jahre später und noch einmal weitere 10 Jahre später Angaben über ihr Freizeitverhalten.
Sie wurden nach dem Grad ihrer Teilnahme an Freizeitaktivitäten in Gruppen mit geringer, mittlerer und hoher Aktivität eingeteilt. Zu den Freizeitaktivitäten zählten etwa Lesen, Musik hören, Unterricht nehmen, in Vereinen mitwirken, Freunde/Verwandte besuchen, Spiele spielen, an religiösen Aktivitäten teilnehmen oder im Garten arbeiten.
Kein geringeres Demenzrisiko durch Freizeitaktivitäten in mittlerem Alter
Während der Studie erkrankten 360 Menschen im Durchschnittsalter von 76,2 Jahren an Demenz. Die allgemeine Demenz-Inzidenzrate betrug 2,4 pro 1.000 Personenjahre.
Die vollständig adjustierte Cox-Regressionsanalyse ergab für die häufigere Teilnahme an Freizeitaktivitäten im Durchschnittsalter von 56 Jahren kein vermindertes Risiko für eine Demenz nach weiteren 18 Lebensjahren (Hazard Ratio: 0,92; 95%-Konfidenzintervall: 0,79–1,06).
Bei Personen, die erst im Durchschnittsalter von 66 Jahren zu einer höheren Teilnahme an Freizeitaktivitäten kamen, war es jedoch weniger wahrscheinlich, dass sie in den darauf folgenden 8 Jahren eine Demenz entwickelten, als bei Personen mit weniger Aktivitäten (HR: 0,82; 95%-KI: 0,69–0,98). Darüber hinaus war ein Rückgang an Freizeitaktivitäten während des Studienzeitraums mit einem erhöhten Demenzrisiko verbunden (HR: 1,38; 95%-KI: 1,20–1,59).
Von den 1.159 Personen, deren Aktivitätsniveau während des Studienzeitraums abnahm, entwickelten 53 (5%) eine Demenz, verglichen mit 17 (2%) von 820 Personen, die ihr Freizeitaktivitätsniveau aufrechterhielten.
„Weitere Untersuchungen sind wohl nötig, um diese Ergebnisse zu bestätigen. Aber wir wissen, dass es bereits Jahrzehnte vor dem Auftreten von Symptomen zu Veränderungen im Gehirn kommen kann“, wird Sommerlad in der Pressemitteilung zitiert. „Es erscheint plausibel, dass Menschen aufgrund subtiler Veränderungen und Symptome, die noch nicht erkannt wurden, ihr Aktivitätsniveau auch schon 10 Jahre vor der eigentlichen Demenz herunterfahren.“
„Zweifellos haben Freizeitaktivitäten einen breiten Nutzen für die Förderung der Lebensfreude, der Lebensqualität und der allgemeinen körperlichen und geistigen Gesundheit“, so Sommerlad in einem Interview. „Doch speziell mit Blick auf die Demenzprävention gibt es bei anderen Maßnahmen bessere Evidenzen. Dazu gehören etwa die Behandlung von Diabetes und Hypertonie, die Reduzierung des Tabak- und Alkoholkonsums, körperliche Aktivität, die Behandlung von Hörproblemen und soziale Kontakte.“
Rolle von Freizeitaktivitäten bei der Demenzprävention bleibt noch unklar
Dr. Ronald C. Petersen von der Mayo Clinic in Rochester, Minnesota, USA, mahnt in einem Kommentar für Medscape zur Vorsicht, was die Schlussfolgerungen aus dieser Studie betrifft. „Es ist sehr schwer, solche Untersuchungen sorgfältig durchzuführen und tatsächlich nachzuweisen, dass, wie in diesem Fall, etwas wie ‚Freizeitaktivitäten‘ einer Demenz vorbeugen kann. Das ist eine schwierige Aufgabe.“
Möglicherweise zeigten Menschen schon „sehr früh Anzeichen für einen kognitiven Abbau und würden sich dann eher weniger wahrscheinlich an derartigen Aktivitäten beteiligen. Dadurch entsteht von Anfang an ein gewisser Selektionsbias. Andererseits wollen wir sicher nicht die Botschaft verbreiten: Lasst die Finger von solchen Studien.“
„Sich in einem sozialen Gefüge zu engagieren, auf eine ‚herzgesunde‘ Ernährung zu achten und körperlich aktiv zu bleiben sind die Dinge, die ich meinen Patienten in der Praxis mit auf den Weg gebe“, sagt Petersen.
Dr. Victor Henderson von der Stanford University in Kalifornien und Dr. Merrill Elias von der University of Maine in Orono, USA, schreiben dazu in einem Leitartikel, dass die Rolle von Freizeitaktivitäten in der Demenzprävention „noch lange nicht geklärt ist und zusätzliche Studien erforderlich sind. Freizeitaktivitäten im mittleren und späten Erwachsenenalter schaden sicher nicht, doch ist ihre Rolle in der Demenzprävention noch unklar. Hier muss noch mehr getan werden.“
Langfristige, populationsbasierte oder repräsentative Kohortenstudien seien zwar schwierig durchzuführen, schreiben sie weiter, doch kommen sie „zu immer besseren Einschätzungen der Rolle, welche die Wahl des Lebensstils im Erwachsenenalter für die Verringerung des Demenzrisikos spielen könnte, was auch Freizeitaktivitäten, aerobe körperliche Aktivität, soziales Engagement, Erwachsenenbildung, Ernährung und andere Faktoren einschließt“. Darüber hinaus könnten große, langfristige, randomisierte, kontrollierte Studien „noch stärkere Evidenzen für einen kausalen Zusammenhang liefern“, betonen sie.
In den USA und in anderen Ländern sind mehrere solcher Studien, die sich auf Lifestyle-Interventionen konzentrieren, geplant oder bereits im Gange. Dazu gehört die FINGER-Studie, die Ernährungsfaktoren, Bewegung, kognitives Training und die Verbesserung der vaskulären Komorbiditäten betrachtet.
Eine andere ist die randomisierte klinische US-POINTER- Multi-Site-Studie, in der untersucht wird, ob Lifestyle-Interventionen wie Bewegung, kognitiv anregende Aktivitäten und die MIND-Diät die kognitiven Funktionen von älteren Erwachsenen mit einem erhöhten Risiko für einen kognitiven Abbau schützen können.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
Medscape Nachrichten © 2020
Diesen Artikel so zitieren: Aktuelle Studie stellt frühere Befunde in Frage, nach denen ein aktives Leben im mittleren Alter das Demenzrisiko senkt - Medscape - 19. Nov 2020.
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