Vorhersagen, nachverfolgen, eindämmen: Digitalisierung als Chance für ein besseres Pandemie-Management in Europa

Dr. Klaus Fleck  

Interessenkonflikte

2. November 2020

Digitalisierung kann dabei helfen, die Verbreitung von Infektionen vorherzusagen, sie nachzuverfolgen und auf Bevölkerungsebene einzudämmen. Welche Rolle die Digitalisierung in der aktuellen Pandemie-Situation spielt und was in diesem Zusammenhang auf europäischer Ebene geplant ist, um künftiges Pandemiemanagement zu verbessern, darüber diskutierten Experten beim diesjährigen digitalen World Health Summit [1].

Optimierbare Datenauswertung

„Als wir zu Anfang dieses Jahres die ersten Infektionen mit SARS-CoV-2 sahen, war das Virus bereits ziemlich verbreitet, aber es mangelte noch an den notwendigen Teststrategien. Digitale Lösungen können vor allem dann von Nutzen sein, wenn bereits Laborergebnisse zu Infektionen vorliegen, um dabei Daten zu sammeln und diese für die Pandemiebekämpfung auszuwerten“, sagte Dr. Andrea Ammon, Direktorin des European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC).

Zu Beginn der aktuellen Pandemie habe es viele Verzögerungen bei der Datenerhebung und -auswertung gegeben, die jedoch durch digitale Lösungen zu beschleunigen und zu optimieren sei.

Als nicht ganz einfach bewertete Ammon die Auswertung von Daten, um die Effektivität einzelner Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie zu messen, da diese meist nicht isoliert, sondern überlappend mit anderen Maßnahmen ergriffen werden.

Eine gewisse Erkenntnis habe es allerdings im Hinblick auf Schulschließungen gegeben, als die Schulen in mehreren europäischen Ländern als erste Lockerungsmaßnahme nach dem Lockdown im April wieder geöffnet wurden. „Hier sahen wir keinen starken Anstieg der Fälle, woraus wir folgern, dass Schulschließungen wahrscheinlich kein sehr effektives Mittel sind, um die Fallzahlen zu reduzieren.“

Gesundheitskrisen länderübergreifend bewältigen

Die Bedeutung, die der Digitalisierung beigemessen wird, zeigt sich auch bei den zentralen Themen der aktuellen deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Bereich Gesundheit, zu denen sowohl die Stärkung des ECDC und der EMA (European Medicines Agency) im globalen Kontext als auch der Aufbau eines europäischen Gesundheitsdatenraums gehören.

Schwerpunkte dabei sind die länderübergreifende Bewältigung der Corona-Pandemie und die Stärkung der Reaktionsfähigkeit auf Gesundheitskrisen, wobei digitalen Lösungen große Chancen zur Bewältigung dieser Aufgaben eingeräumt werden.

Dass solche Lösungen in Deutschland auf dem Vormarsch sind, bekräftigte der Präsident des Rober Koch-Insituts (RKI) Prof. Dr. Lothar Wieler: „Auf nationaler Ebene haben wir in diesem Jahr eine ganz erhebliche Steigerung beim Einsatz digitaler Werkzeuge zur Unterstützung von Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit gesehen.“ So würden mittlerweile verschiedene wichtige Gesundheitsdaten – etwa von Labors – automatisch erfasst, was früher nicht der Fall gewesen sei. 

 
Auf nationaler Ebene haben wir in diesem Jahr eine ganz erhebliche Steigerung beim Einsatz digitaler Werkzeuge zur Unterstützung von Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit gesehen. Prof. Dr. Lothar Wieler
 

„Dabei können Echtzeitdaten genutzt werden, um Politikern Empfehlungen zu geben und Entscheidungen für die öffentliche Gesundheit nach diesen Daten auszurichten.“ Als in diesem Zusammenhang unverzichtbar bezeichnete Wieler die Zusammenarbeit des Gesundheitssektors mit der IT-Industrie als Partner.

Ein weiteres durch Digitalisierung ermöglichtes Phänomen sei die schnelle Zunahme von Preprint-Publikationen im Internet: „Dies ist ein völlig neuer Aspekt zur schnellen Verbreitung neuer wissenschaftlicher Kenntnisse“, so der RKI-Präsident. „Problematisch ist dabei allerdings, dass Leute, die diese Preprints ohne das dafür notwendige wissenschaftliche Fachwissen lesen, auch falsche Entscheidungen treffen können.“

Plädoyer für die Corona-Warn-App

Sehr hilfreich ist Wieler zufolge die Digitalisierung darüber hinaus bei der der Kontaktverfolgung infizierter Personen. „Kontaktverfolgung steht ganz im Zentrum, wenn es darum geht, Infektionsausbrüche einzudämmen, und eine Pandemie ist nichts anderes als Tausende einzelner Ausbrüche.“ Die Corona-App sei dabei ein effizientes Werkzeug, allerdings auch nur eines von mehreren im Anti-Corona-Werkzeugkasten.

Bei der Entwicklung der Corona-Warn-App, dem bisher offenbar größten in Deutschland öffentlich geförderten Open-Source-Projekt, gab es laut Dr. Jürgen Müller, Chief Technology Officer (CTO) des Softwarekonzerns SAP, komplette Transparenz. Gelobt wurde sie bei ihrer Einführung unter anderem vom Computer Chaos Club, der sonst sofort Missstände beim Datenschutz rügt. Eine Erklärung: „Das System der deutschen Corona-Warn-App“, so Müller „enthält keine persönlichen Informationen über den Anwender.“ Das ist nicht in allen Ländern mit Corona-Warn-Apps so.

Bis jetzt gab es in Deutschland mehr als 20 Millionen Downloads der App und Müller zufolge wurden seit ihrer Einführung mehr als 15.000 positive Corona-Testergebnisse anonym über sie weitergegeben.

Dabei könne bereits ein von der App gemeldetes niedriges Risiko nach einer Begegnung mit einer später Corona-positiv getesteten App (wenn sich die Begegnung auf einen kurzen Zeitraum oder einen größeren Abstand beschränkt) den gewünschten Effekt haben, dass die gewarnte Person ihr Verhalten ändert und sich fortan vorsichtiger verhält. Seit kurzem funktioniert die Risikoermittlung mit der deutschen App länderübergreifend auch in Irland und Italien, weitere EU-Länder sollen folgen.

Handlungsbedarf für Politiker europaweit

Politische Entscheider in allen europäischen Ländern sieht RKI-Präsident Wieler in der Verantwortung, sich angesichts der jetzigen Corona-Krise kooperierend für eine Verbesserung von Digitalisierung und länderübergreifend harmonisiertem Datenaustausch einzusetzen: „Seit Jahrzehnten wird darüber in der Theorie geredet, jetzt besteht die Chance und die Notwendigkeit, dem Taten folgen zu lassen, und wir müssen diese Chance nutzen."

Handlungsbedarf sieht auch Dr. Cristian-Silviu Bușoi, Mitglied des Europäischen Parlaments: „Wir sollten unsere Gesundheitssysteme belastbarer machen.“ Dabei helfen könnten europäische Instrumente wie das von der EU-Kommission initiierte Programm EU4Health, dessen Berichterstatter (Rapporteur) Bușoi ist.

Das Programm, für das ein Budget von 9,4 Milliarden Euro vorgeschlagen wurde, soll Anfang 2021 starten und sich auf den Zeitraum bis 2027 erstrecken. Zu seinen Hauptzielen gehört, die Menschen in der EU vor schweren grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren zu schützen, die Krisenmanagementkapazität zu verbessern, die Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit von Arzneimitteln, Medizinprodukten und anderen krisenrelevanten Produkten zu gewährleisten und Innovationen zu fördern.

 

Kommentar

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