Die Zahl der Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 steigt weiter. Schon die 1. Pandemiewelle hat die Versorgung von Schlaganfall-Patienten beeinträchtigt. Auf der Online-Pressekonferenz der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DGS) zum Weltschlaganfalltag riefen Experten nachdrücklich dazu auf, beim Verdacht auf Schlaganfall keine Zeit zu verlieren, rasch zu handeln und zur Prävention auch die Grippeschutzimpfung zu nutzen [1].
Weltweit wurden im Frühjahr 2020 in Stroke Units deutlich weniger Patienten mit akutem Schlaganfall behandelt, verglichen mit dem Vorjahr: „Ein Rückgang in der Größenordnung um die 30%”, berichtete Prof. Dr. Helmut Steinmetz, Direktor der Klinik für Neurologie an der Universität Frankfurt und Vorsitzender der DSG. „Uns beunruhigt, dass offenbar viele Patienten nicht in die Klinik kamen aus Angst, sich dort zu infizieren.” Nun laufe man in eine ähnlich starke 2. Welle „nicht nur, was die Zahl der Infizierten, sondern auch was die Zahl der manifest Kranken angeht”, so Steinmetz.
Zwar sieht der Experte bislang keine Hinweise, dass Patienten mit akuten Beschwerden Krankenhäuser meiden würden: „Der Angstfaktor scheint mir im Moment weniger ausgeprägt zu sein als bei der 1. Welle.” Aber das könne sich natürlich noch ändern. Er appellierte, beim Verdacht auf einen Schlaganfall umgehend den Notarzt zu rufen: „Bislang gibt es überhaupt keinen Grund, zu zögern, mit schlaganfallartigen Symptomen die 112 zu wählen und sich einer Akuttherapie zu unterziehen.“
Infektionskrankheiten triggern Schlaganfälle
Dass akute Infektionen wichtige Triggerfaktoren für ischämische Schlaganfälle sein können, betonte Prof. Dr. Armin Grau, Direktor der Neurologie am Klinikum der Stadt Ludwigshafen. Schlaganfälle entstehen zwar unter Einwirkung längerfristiger Risikofaktoren wie Hypertonie, Diabetes oder Rauchen. Diese allein erklären aber nicht, weshalb ein Schlaganfall zu einem bestimmten Zeitpunkt, etwa im Winter, häufiger auftritt.
Damit ist auch SARS-CoV-2 ein Risikofaktor und begünstigt die Entstehung eines Schlaganfalls. „Das Virus führt zu Gefäßwandveränderung und – wahrscheinlich noch relevanter – zu einer systemischen Gerinnungsaktivierung”, erklärte Steinmetz. Liege nun eine Erkrankung der Herzwand oder der Gefäßwand vor, komme mit einer SARS-CoV-2-Infektion ein weiterer begünstigender Umstand hinzu.
Wir sehen einige wenige Prozent – etwa 2% bis 3% – der COVID-19-Patienten, die neben Multiorganproblemen dann auch noch einen Schlaganfall erleiden.
„Wir sehen einige wenige Prozent – etwa 2% bis 3% – der COVID-19-Patienten, die neben Multiorganproblemen dann auch noch einen Schlaganfall erleiden”, berichtete Steinmetz, der sich auf Studien aus China berief. Hinzu kommt: Auch Patienten, die bereits einen Schlaganfall erlitten haben, sind anfälliger für einen schweren Verlauf von COVID-19.
Doch selbst junge mit SARS-CoV-2 infizierte Patienten – vor allem, wenn Risikofaktoren wie Übergewicht, Diabetes oder Bluthochdruck vorliegen – seien von Hirninfarkten betroffen, erinnerte Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Schäbitz, Sprecher der DSG und Chefarzt der Neurologie am Evangelischen Krankenhaus Bielefeld-Bethel. Das zeigten Daten aus New York.
Weniger Schlaganfall-Patienten, Thrombektomie-Rate stabil
Wie Schäbitz erklärte, seien in Deutschland die direkten Auswirkungen der durch SARS-CoV-2 ausgelösten Erkrankungen in Form von Schlaganfällen bislang zwar überschaubar gewesen. Doch die Hochphase der Pandemie im März und April 2020 wirkte sich auch auf die Versorgung aus: Weil Betten für die Behandlung von an SARS-CoV-2 erkrankten Patienten bereit gestellt werden mussten, wurde in zirka 30% deutschen Stroke Units die Zahl der Betten reduziert.
In dieser Zeit kam es auch zu einem Rückgang der Schlaganfall-Aufnahmen auf Stroke Units. Auf dem diesjährigen Stroke-Unit-Betreibertreffen wurde berichtet, dass mehr als die Hälfte aller Stroke Units 10 bis 30% weniger Schlaganfälle behandelten. Weitere 20% verzeichneten Rückgänge von mehr als 30%, die übrigen Rückgänge von weniger als 10%.
Wie Schäbitz berichtete, kam es in Notaufnahmen vor allem in den Kalenderwochen 12 bis 16 zu weniger Aufnahmen von Patienten mit Verdacht auf Schlaganfall. Ein Rückgang der Thrombektomien ist hingegen nicht beobachtet worden: „Die Zahl der Patienten ging zurück, aber der Prozentsatz derer, die dann thrombektomiert wurden, ist nicht gesunken“, so Steinmetz.
Elsass: Deutlich geringere Thrombolyserate während der 1. Welle
Ähnliche Entwicklungen finden sich auch in anderen Ländern. In den USA wurden in 856 Krankenhäusern Anfang April 39% weniger zerebrale Bildgebungen bei Verdacht auf akuten Schlaganfall durchgeführt. Und Daten einer Studie aus dem Elsass zeigen, dass es auch erhebliche Auswirkungen auf die Abläufe und Prozesse in der Akutversorgung von Schlaganfall-Patienten gab. Man fand eine um 41% niedrigere Thrombolyse-Rate aufgrund einer späteren Patientenvorstellung außerhalb des Zeitfensters im Vergleich zu 2019.
Bezogen auf die Kapazitäten von Intensivstationen und Stroke Units haben wir in Deutschland die besten Voraussetzungen, um auch durch die 2. Welle zu kommen.
Neben einem allgemeinen Rückgang der Rate an Schlaganfall-Patienten gab es auch Hinweise auf eine Zunahme von Patienten mit einem Verschluss der großen gehirnversorgenden Gefäße. Das deutet darauf hin, dass eine verschleppte Behandlung von leichten Schlaganfallsymptomen zu einem Anstieg von schweren Schlaganfällen geführt haben könnte
„Bezogen auf die Kapazitäten von Intensivstationen und Stroke Units haben wir in Deutschland die besten Voraussetzungen, um auch durch die 2. Welle zu kommen. Ich rechne zwar mit einem höheren Patientenaufkommen als während der ersten Welle, bin aber dennoch ganz zuversichtlich”, schloss Schäbitz.
Impfung gegen Influenza reduziert das Schlaganfall-Risiko
Weil sich nach Influenza-Epidemien erhöhte Raten an Schlaganfällen zeigen, rät die DSG zur Grippeschutzimpfung. „Zahlreiche Fall-Kontroll-Studien und Auswertungen großer Datenbanken haben gezeigt, dass akute virale und bakterielle Infektionen, und zwar vor allem Atem- und Harnwegsinfekte, das Schlaganfallrisiko kurzzeitig ansteigen lassen”, erinnerte Grau.
Zahlreiche Fall-Kontroll-Studien und Auswertungen großer Datenbanken haben gezeigt, dass akute virale und bakterielle Infektionen … das Schlaganfallrisiko kurzzeitig ansteigen lassen.
In den 3 Tagen nach einer Infektion sei das Risiko am größten und sinke dann mit der Zeit langsam ab. Eine Metaanalyse aus 12 Studien hat gezeigt, dass akute Infektionen das Risiko ischämischer Schlaganfälle innerhalb eines Monats um den Faktor 2,4 (95 % KI 1,8-3,3) erhöhen.
Grau erinnerte daran, dass die Grippeschutzimpfung auch mit einem deutlich reduzierten Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle einhergeht. In einer Metaanalyse aus 11 Studien zeigte sich eine mittlere Reduktion des Schlaganfallrisikos um 18% (95% KI: 9%-25%).
Wissenschaftler vermuten, dass ein Teil des Effekts der Grippeimpfung auf unberücksichtigten Einflussfaktoren beruht: Wer sich impfen lässt, lebt auch sonst gesünder, und wer körperliche Einschränkungen oder Vorerkrankungen hat, bekommt seltener die Impfung. Auch wenn noch viele Fragen zur Wirkweise der Impfung offen seien, gehe man von einer spezifischen Schutzwirkung aus, so die DSG.
Medscape Nachrichten © 2020 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Schlaganfälle in Corona-Zeiten: Leerstände auf der Stroke-Unit; SARS-CoV-2 als Trigger. Was Ihre Patienten wissen sollten - Medscape - 29. Okt 2020.
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