Das Corona-Dilemma: Evidenzbasiert entscheiden bei dünner Datenlage – Norwegen als Vorbild?

Heike Dierbach

Interessenkonflikte

29. Oktober 2020

Berlin – Wie kann man evidenzbasierte Entscheidungen treffen, wenn die Evidenzlage dünn ist? Vor dem Problem standen im Frühjahr Experten weltweit, die ihre nationalen Regierungen zu COVID-19-Maßnahmen beraten sollten. Auf dem Panel „Evidence-Based Decision-Making in Global Health“ beim digitalen World Health Summit tauschten sie nun ihre Erfahrungen aus [1].

Dabei wurde deutlich, dass die Berater vor teils unlösbaren Dilemmata standen – weil die Maßnahmen, die sie empfehlen wollten, praktisch gar nicht umsetzbar waren oder die gesetzlichen Grundlagen fehlten.

Entscheidungsgrundlagen im Verlauf der Pandemie grundlegend verändert

Die Zusammensetzung des Panels repräsentierte vor allem die Industrieländer und mit Großbritannien und Spanien auch schwerpunktmäßig jene, die die Pandemie vergleichsweise schlecht bewältigen. Die Musterschüler wurden hingegen durch Norwegen vertreten – und man bekam auch eine Ahnung, warum das Land vielleicht bisher relativ gut dasteht.

Die Grundlage für Entscheidungen habe sich im Verlauf der Pandemie grundlegend verändert, berichtete Prof. Dr. Yvonne Doyle, Medical Director und Director for Health Protection bei Public Health England. Zu Beginn hätten die Epidemiologie und Modellrechnungen dominiert.

Doch im Verlauf seien Erfahrungen aus der klinischen Praxis immer wichtiger geworden und auch die Verhaltensbeobachtung: „Wir haben gesehen, wie verschiedene Bevölkerungsgruppen auf die Maßnahmen reagiert haben, welche Konsequenzen es gab. Auf der Grundlage mussten wir neu bewerten, welche Maßnahmen am besten wirken.“

Heute beziehen die Briten viele verschiedene Aspekte in diese Bewertung ein. Bei der Frage, ob Schulschließungen geeignet sind, um das Virus zu stoppen, wurde beispielsweise auch die Bedeutung der kostenlosen Schulessen für viele Kinder berücksichtigt, neben eher „klassischen“ Daten zu Ausbrüchen an Schulen etc. In der Summe lautet u.a. deshalb die aktuelle Empfehlung: „Bei Schulkindern überwiegen die Vorteile des Schulbesuchs die geringen Risiken.“

 
Bei Schulkindern überwiegen die Vorteile des Schulbesuchs die geringen Risiken. Prof. Dr. Yvonne Doyle
 

Wie massenhaft testen ohne Kapazitäten?

Auch in Spanien standen die Experten vor dem Dilemma, dass sie schnell Empfehlungen abgeben sollten, aber kaum Daten hatten. „Selbst die Erfahrungen mit dem Lockdown in der Provinz Hubei waren nur bedingt übertragbar“, sagt Dr. Fernando Simón, Direktor des Koordinierungszentrums für Gesundheitsnotfälle im spanischen Gesundheitsministerium: „In China ging es nur um eine von 21 Provinzen, die währenddessen von den anderen gestützt wurde. Bei uns aber um einen Lockdown für das gesamte Land.“

Zu Beginn der Pandemie sei noch nicht einmal das Ziel der Maßnahmen klar gewesen: Möglichst viele Infektionen vermeiden? Oder einen Kollaps des Gesundheitswesens verhindern? „Und wir waren kurz davor, dass dieser Kollaps eintritt.“

Hinzu kamen in Spanien Lieferprobleme für Masken und Tests, berichtet Simón. „Wir mussten dann entscheiden: Sollen wir eine Maßnahme empfehlen, die laut Evidenz viel bringen würde, die aber gar nicht umgesetzt werden kann? Oder lieber eine, die zwar weniger bringt, aber dafür realisierbar ist?“

Und schließlich fehlte eine klare gesetzliche Grundlage: „Für solche einschneidenden Maßnahmen gab es eigentlich nur das Instrument des Notstands. Das wurde aber im demokratischen Spanien zuvor noch nie angewandt.“ Nach Monaten in dieser schwierigen Lage war dem spanischen Experten in der Zoom-Session die Erschöpfung förmlich anzusehen.

Evidenz geht auch unter Zeitdruck

In Norwegen scheinen die Abläufe der Entscheidungsfindung hingegen klarer. Alle 2 Tage gibt es dort von 8 bis 9 Uhr eine Konferenzschaltung mit Vertretern von Regierung, der Direktion des staatlichen Gesundheitswesens und dem nationalen Public Health Institut. „Da erhalten wir immer direkt viele Aufträge“, sagt der dortige Direktor für Infektionskrankheiten und Global Health Prof. Dr. Frode Forland – gerade sei man bei Auftrag Nr. 197.

Am vorigen Freitag etwa habe die Frage gelautet: „Welche Maßnahmen sind jetzt notwendig, um eine Situation wie im Frühjahr zu vermeiden?“ Für die Antwort hatte das Institut bis Sonntagmittag Zeit, am Montagmorgen wurde darüber beraten, „und nachmittags werden dann die neuen Maßnahmen auf einer Pressekonferenz verkündet“.

Zugleich gebe es aber in Norwegen auch eine hohe Flexibilität auf kommunaler Ebene. Die Stadt Oslo etwa erlasse eigenständig noch schärfere Maßnahmen.

Trotz des Zeitdrucks fußen die Norweger ihre Empfehlungen so weit wie möglich auf Evidenz, betont Forland. „Wir haben im Institut Gremien, die das zu jeder Frage einschätzen.“ Die Erkenntnisse werden auf einer „Live-Karte zur COVID 19-Evidenz“ auch öffentlich (auf Englisch) zur Verfügung gestellt. Dort kann man für viele Variablen wie Alter oder Vorerkrankungen recherchieren, wie viele Studien es bereits gibt.

Insgesamt wurden bisher rund 10.000 Studien eingespeist. Die Karte zeigt deutlich: Die meiste Evidenz gibt es bisher zu Eindämmungsmaßnahmen. „Die Wissenschaft weiß ja selbst nicht, was wirklich etwas bringt!“, stimmt also nicht mehr.

Und doch wisse man natürlich vieles bei COVID-19 immer noch nicht, sagt Forland, „und das sollte man dann auch klar so sagen.“ Das unterstrich auch die Vertreterin der WHO Dr. Soumya Swaminathan, Leiterin der Abteilung Wissenschaft. COVID-19 habe auch die Forschung an sich ins Rampenlicht gerückt.

„Man muss den Leuten erklären, dass es gerade gut ist, wenn sich Empfehlungen ändern, weil wir eben immer neue Erkenntnisse haben“, sagte Swaminathan. Wobei durchaus auch die Industrieländer von ärmeren Ländern lernen könnten, die die Pandemie gut bewältigen. 

 
Man muss den Leuten erklären, dass es gerade gut ist, wenn sich Empfehlungen ändern, weil wir eben immer neue Erkenntnisse haben. Dr. Soumya Swaminathan
 

So hätten mehrere Länder gute Erfahrungen damit gemacht, dass Infizierte die Quarantäne eben nicht zu Hause verbringen, wo sie andere anstecken können. „Wir sehen jetzt, dass auch in den Industrieländern sehr viele Übertragungen zu Hause stattfinden.“ 

 
Wir sehen jetzt, dass auch in den Industrieländern sehr viele Übertragungen zu Hause stattfinden. Dr. Soumya Swaminathan
 

 

Kommentar

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