Die Angehörigen der Opfer des Attentats auf ein Jugendlager auf der norwegischen Insel Utøya, bei dem im Juli 2011 insgesamt 69 meist junge Menschen erschossen und Hunderte verletzt worden waren, kämpfen auch Jahre danach noch mit starken Trauerreaktionen. Das ist das Ergebnis einer Studie unter der Leitung der Universität Bergen, die gerade in Frontiers in Psychiatry veröffentlicht worden ist [1]. Die Autoren leiten daraus die Forderung nach mehr Unterstützung ab.
Auch für Deutschland fordert Prof. Dr. Birgit Wagner von der MSB Medical School Berlin gegenüber Medscape mehr Infrastruktur für Betroffene von starker Trauer: „Bisher müssen sie sich die Hilfe meist selbst zusammensuchen.“
Chronische ATS besonders häufig bei Verlust eines Kindes
Eine über das normale Maß starke und andauernde Trauerreaktion wird als „Prolonged Grief Disorder“, deutsch „Anhaltende Trauerstörung“ (ATS) bezeichnet. Sie wurde gerade in die 11. Fassung des ICD aufgenommen, die ab 2022 gilt.
Eine ATS ist gekennzeichnet durch starke Beschäftigung mit dem Verstorbenen, Schwierigkeiten, den Verlust zu akzeptieren, Wut, Bitterkeit oder das Gefühl, dass das Leben sinnlos sei. Im Durchschnitt tritt die Störung bei rund 10% der Hinterbliebenen auf, heißt es in der Einleitung. Unter bestimmten Umständen ist sie jedoch deutlich häufiger. So zeigt eine aktuelle Meta-Analyse, dass nach unnatürlichen Todesfällen (u.a. durch Mord, Suizid, Unfälle) rund 50% der Trauernden an einer ATS leiden.
Zu den langfristigen psychischen Auswirkungen von Terrorakten gebe es nur wenig Forschung, betonen die Autoren um Prof. Dr. Pål Kristensen. Studien zu den Angehörigen der Opfer vom World Trade Center zeigten aber, dass 15 Jahre danach die Mehrheit als gesund bezeichnet werden kann. Daten zum Tsunami 2004 weisen darauf hin, dass der größte Risikofaktor für eine chronische ATS der Verlust eines Kindes ist. Dieser Faktor ist bei dem Attentat von Utøya besonders relevant.
Angehörige der Utøya-Opfer befragt
Auf der norwegischen Insel Utøya erschoss der Attentäter Anders Breivik am 22. Juli 2011 insgesamt 69 Menschen zwischen 14 und 51 Jahren, viele davon Teenager. Für die Studie wurden 216 Angehörige kontaktiert. 129 Eltern und Geschwister nahmen teil, 83 davon bis zum Ende der Studie.
67% der Teilnehmer hatten bei dem Anschlag ein Kind verloren. Das Durchschnittsalter dieser Opfer betrug 18,7 Jahre. Die Forscher erhoben Daten zu 3 Zeitpunkten: 18, 28 und 40 Monate nach dem Anschlag. Die Schwere der Trauerreaktion wurde gemessen mit dem Inventory of Complicated Grief (ICG), einem Fragebogen mit 19 Punkten. Er wird auch in Deutschland verwendet.
Aufgrund der gemessenen Werte teilten die Forscher die Teilnehmer in 3 Gruppen ein (nach dem Verfahren der latenten Klassenanalyse).
Frauen litten mehr als Männer
Die Ergebnisse zeigen ein bedrückendes Bild. 2 Drittel der Angehörigen (64%) zeigten eine starke ATS, die auch nur langsam abnahm. Die Risikofaktoren dafür waren unter anderem weibliches Geschlecht und eine depressive Symptomatik schon vor dem Verlust.
Am zweithäufigsten (23%) war eine moderate ATS mit normaler Abnahme. 13% der Teilnehmer zeigten eine starke ATS, die sich chronifiziert hatte. Die Risikofaktoren dafür waren dieselben, aber noch ergänzt durch Vermeidungsverhalten. Kein Einfluss hatte die Frage, ob die Teilnehmer ein Kind oder Geschwister verloren hatten.
Ungewöhnlich war, dass es keine resiliente Gruppe gab, die die Trauer angemessen bewältigt hatte. Dies wird sonst selbst nach Terrorangriffen beobachtet. Hier hängt es vermutlich damit zusammen, dass viele ein Kind betrauerten, so die Autoren. Auch sei es möglich, dass vor allem stärker belastete Personen für eine Teilnahme an der Studie motiviert waren.
Für die Autoren sind die Ergebnisse alarmierend: „Fast 80 Prozent der Teilnehmer zeigten hohe Werte und eine nur langsame Erholung von chronischer Trauer. Das legt nahe, dass die Mehrzahl der Angehörigen von Terroropfern mehrere Jahre damit zu kämpfen hat, den Verlust zu bewältigen.“
Handlungsempfehlungen aus den Studienergebnissen
Die Forscher leiten daraus Handlungsempfehlungen ab. So sollten Angehörige nach einem Anschlag früh Hilfsangebote erhalten: „Sie sollten routinemäßig darauf gescreent werden, ob sie schon zuvor depressive Symptome aufwiesen.“
Weil manche Betroffene zu Beginn Hilfe ablehnen, sollten die Angebote regelmäßig wiederholt werden, nach ein paar Wochen, aber auch nach längerer Zeit. Für die Unterstützung und – bei Bedarf – für die Behandlung der ATS müsse qualifiziertes Personal zur Verfügung stehen.
Wagner überraschen die Ergebnisse nicht: „Wir haben es hier mit nächsten Angehörigen zu tun, die schwerst traumatisiert sind. Diese leiden oft sehr lange, manchmal Jahrzehnte.“ Dies sei häufiger zu beobachten bei Eltern, deren Kind durch Tötung oder Suizid sterbe.
Doch mit der Versorgung dieser Gruppe hapert es: „In Deutschland müssen viele oft erst suchen, bis sie kompetente Hilfe finden“, kritisiert Wagner. In Dänemark etwa gebe es für diese Fälle spezialisierte Zentren mit Fachleuten. „In Deutschland hingegen wird viel den Selbsthilfe-Verbänden überlassen.“ Diese seien aber meist nur höchst unzureichend gefördert. „Wir brauchen deshalb auch in Deutschland professionelle Zentren, die sich kümmern“, fordert die Expertin.
Medscape Nachrichten © 2020
Diesen Artikel so zitieren: Wenn die Trauer nicht enden will – Studie mit Hinterbliebenen des Breivik-Attentats: Es fehlt Unterstützung - Medscape - 27. Okt 2020.
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