Gehirnerschütterungen werden in der Praxis meist ohne objektive Werte diagnostiziert. Sehr häufig stellt sich dieses Problem etwa nach Sportunfällen bei Jugendlichen. Auf der Suche nach einem leicht verfügbaren Biomarker zeigt eine aktuelle Studie [1] eine deutliche Zunahme verschiedener einfach zu bestimmender Pupillen-Reflexwerte nach einer stumpfen Kopfverletzung bei jugendlichen Sportlern gegenüber Probanden ohne Unfall. Das berichten Dr. Christina L. Master vom Children’s Hospital of Philadelphia und Kollegen in JAMA Ophthalmology.
Neuer Ansatz der Diagnostik von Gehirnerschütterungen
98 Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren, die aufgrund von Sportunfällen eine Gehirnerschütterung erlitten hatten, zeigten nach median 12 Tagen signifikante Änderungen bei 8 von 9 Parametern eines Pupillometers gegenüber 134 gesunden Kontrollprobanden. Mit einem Pupillometer lassen sich Pupillenreaktionen objektivierbar und nicht invasiv bestimmen.
So vergrößerte sich
der maximale Pupillendurchmesser um etwa 20% auf 4,83 mm gegenüber 4,01 mm,
der minimale Pupillendurchmesser um etwa 10% auf 2,96 mm gegenüber 2,63 mm,
die Konstriktion um etwa 17% auf 38,23% gegenüber 33,66%,
die durchschnittliche Konstriktionsgeschwindigkeit um etwa 17% auf 3,08 gegenüber 2,50 mm/s,
die höchste Konstriktionsgeschwindigkeit um gute 20% auf 4,88 mm/s gegenüber 3,91 mm/s,
die durchschnittliche Dilatationsgeschwindigkeit um etwa 8% auf 1,32 mm/s gegenüber 1,22 mm/s,
die höchste Dilatationsgeschwindigkeit um etwa 10% auf 1,83 mm/s gegenüber 1,64 mm/s
und die T75 (Dilatationszeit der Pupille von minimaler auf 75% der maximalen Größe) um etwa 15 % auf 1,81 auf 1,51 Sekunden.
„Die Studie bringt einen hochinteressanten Ansatz in die Gehirnerschütterungs-Diagnostik“, erklärt Dr. Axel Gänsslen gegenüber Medscape. Er ist Arzt für Chirurgie, Unfallchirurgie und Orthopädie am Klinikum Wolfsburg und Mannschaftsarzt eines Eishockey-Clubs. „Denn eine schnelle Diagnose ist wichtig, weil in der Praxis davon oft die Entscheidung über eine weitere Teilnahme an Sport oder aber auch am Straßenverkehr anhängt.“
Handelsübliches Pupillometer liefert standardisierte Werte
Der einzige Parameter, der sich nach einer Gehirnerschütterung nicht änderte, war die Latenz, also die Zeit bis zur maximalen Konstriktion der Pupille nach dem Lichtimpuls. Alle Werte wurden mit einem handelsüblichen computergestützten Infrarot-Handpupillometer (Neuroptics PLR-3000) ermittelt, das bereits in ähnlichen Studien bei Erwachsenen eingesetzt wurde.
Master und ihre Koautoren wollten im Rahmen ihrer prospektiven Beobachtungsstudie die Möglichkeit erforschen, die Pupillenreflexmessung als einfachen Biomarker zur Diagnose einer Gehirnerschütterung bei jugendlichen Sportlern anzuwenden.
Die Messungen mit dem Pupillometer dauerten jeweils nur 5 Sekunden und wurden im Minutenabstand pro Auge jeweils 3-mal wiederholt, um Artefakte auszuschließen. Den jeweils endgültigen Wert errechneten die Autoren als Mittelwert aus 2 Messungen ohne Störungen wie Zwinkern oder Augenbewegungen. Nach diesen Vorgaben konnten von 110 Probanden mit Gehirnerschütterung lediglich 98 in die Analyse eingeschlossen werden, bei den gesunden Probanden waren es 134 von 143.
Schnelle und verlässliche Diagnose vielleicht sogar ohne Arzt
„Solch eine standardisierte Messung fehlt bisher. Sie hätte den Vorteil, die Diagnose schnell und sogar schon am Unfallort feststellen zu können“, folgert Gänsslen, der auch die Initiative „Schütz Deinen Kopf!“ für Gehirnerschütterungen im Sport ( Medscape berichtete ) ins Leben gerufen hat. „Man müsste prüfen, ob ein solches Pupillometer auch für die Hand von Lehrern oder Trainern geeignet sein könnte.“
Da in die Studie nur relativ wenige Probanden eingeschlossen wurden, entschieden sich die Autoren für eine höhere Signifikanzanforderung als mit einem Konfidenzintervall von 95% üblich, die Ausreißer unter 20 Werten (5%) toleriert. Deshalb teilten sie diese 5% durch die Anzahl der einfließenden 9 Parameter der verwendeten Pupillometrie (Bonferroni-Korrektur). Somit lag die Anforderung für Signifikanz nicht bei 5%, sondern 5%/9, also 0,55% tolerierter Ausreißer (1 von 182, Konfidenzintervall von 99,45%), wodurch sich die statistische Aussagekraft dieser Studie wesentlich erhöhte.
„Obwohl die Ergebnisse der Studie durchaus glaubhaft sind“, relativiert Gänsslen, „ist das Zeitintervall der Messungen zwischen Tag 0 und Tag 28 sehr groß. Für die Praxis wäre jetzt eine Analyse von Daten wünschenswert, die möglichst am Unfalltag ermittelt wurden, besser noch sofort am Unfallort.“
Auch in ihrem zeitgleich publizierten Editorial [2] zeigen sich Dr. Wesley T. Beaulieu und Adam R. Glassman, beide vom Jeab Center for Health Research, Florida, überzeugt von der Aussagekraft der Studie und der Folgerung der Autoren, dass die hier verwendete Methode der Pupillometrie ein geeignetes Mittel zur Diagnose von unfallbedingten Gehirnschütterungen bei Jugendlichen sei. Dabei scheint der genaue Zeitpunkt der Untersuchung unerheblich zu sein, sofern er innerhalb von 28 Tagen nach dem Unfall liegt.
„Das breite Zeitfenster für die Diagnostik per Pupillometer war natürlich notwendig, um Patienten in die Studie einzuschließen, bei denen bereits eine Gehirnerschütterung mit anderen Verfahren diagnostiziert wurde“, kommentiert Gänsslen. „Den wirklichen Vorteil des Biomarkers Pupillenreaktion sähe ich aber in der Schnelligkeit und Zuverlässigkeit in der Praxis.“
Medscape Nachrichten © 2020
Diesen Artikel so zitieren: Eine Gehirnerschütterung direkt vor Ort diagnostizieren? Mit dieser einfachen Technik könnte es gelingen - Medscape - 19. Okt 2020.
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