Gesundheits-Apps gibt es unzählige: zur Pulskontrolle, als Hilfen zum Einschlafen oder zum Schritte-Zählen beim Laufen. Aber bisher gelangte keine App in die Erstattung der Krankenkassen. Das wird nun anders. Seit dem 7. Oktober können Ärzte zum ersten Mal Gesundheits-Apps verordnen, zulasten der Krankenversicherung – wie ein Medikament über das Muster 16. Es handelt sich um die App „Kalmeda“ und die Online-Anwendung „velibra“.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat dazu die beiden Apps auf Rezept in das Verzeichnis für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) eingestellt, teilt das BfArM mit.
Damit tut sich ein enormer neuer Markt auf: Die Krankenkassen warnen bereits davor, dass sich die Hersteller „aus den Portemonnaies der Beitragszahler“ bedienen, wie Stefanie Stoff-Ahnis sagt, Vorstand beim GKV-Spitzenverband. Auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) meldet Zweifel an. Außerdem bleibt bisher offen, ob die Ärzte die Apps überhaupt verordnen würden.
App auf Rezept ist eine Weltneuheit
Das DiGA-Verzeichnis „soll für Ärztinnen und Ärzte zum Digital-Lexikon werden“, sagt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). „Hier finden sie, welche Apps und digitalen Anwendungen verordnet werden können. Die Wirkung dieser digitalen Hilfsmittel wird genau überprüft. Deswegen wächst diese Liste nur langsam auf.“ Das DiGA-Verzeichnis sei eine Weltneuheit, betont der Minister. „Deutschland ist das erste Land, in dem es Apps auf Rezept gibt.“
Die Apps werden vom BfArM in einem Fast-Track-Verfahren zugelassen, das 3 Monate dauert, sagt Maik Pommer, Sprecher des BfArM, zu Medscape. „Denn wir reden hier ja über Produkte, die einen gewissen Innovationszyklus haben“, so Pommer. Will sagen: Die Zulassung in die Erstattung soll nicht von Neuentwicklungen überholt werden. Die Marktreife und das entsprechende CE-Kennzeichen müssen die Produkte allerdings schon mitbringen.
Nach Angaben des BfArM stehen derzeit 21 weitere Apps beim Institut in der Warteschleife zur Zulassung in der Erstattung. „Für weitere rund 75 Anwendungen hat das Innovationsbüro des BfArM bereits Beratungsgespräche mit den Herstellern geführt, sodass kurzfristig weitere Anwendungen in die Prüfung und ins Verzeichnis kommen werden“, so das BfArM.
„Kalmeda“ gegen Tinnitus und „velibra“ gegen die Angst
„Kalmeda“, die erste vom BfArM zugelassene verordnungsfähige App, könnte vor allem für HNO-Ärzte eine Verordnungsalternative darstellen. „Kalmeda“ ist eine Tinnitus-App, die auf mehrere Monate dauernde kognitive Verhaltenstherapie setzt. Sie arbeitet leitliniengerecht. Ziel ist, dass die Patienten ihre innere Einstellung dem Tinnitus gegenüber ändern und eine größere Akzeptanz aufbringen. Über innere Ruhe, Entspannung und Achtsamkeitsübungen soll der ein neues Verhalten das alte ersetzen und so Tinnitus entmachtet werden.
Die App „velibra“ soll Patienten mit Generalisierter Angststörung, Panikstörung mit oder ohne Agoraphobie oder Sozialer Angststörung unterstützen. Auch das Online-Programm „velibra“ bedient sich der kognitiven Verhaltenstherapie. Das Programm kann von Ärzten und Psychotherapeuten verordnet werden.
Möglich geworden sind die Apps auf Rezept, nachdem der Gesetzgeber im vergangenen Jahr im Digitale Versorgungs-Gesetz (DVG) einen Leistungsanspruch für Apps auf Rezept festgelegt hat.
Im ersten Jahr ohne Preisbindung
Warnende Worte kommen von Seiten der Krankenkassen. „Ein großes Problem sind die gesetzlichen Finanzierungsregelungen“, kommentierte Stoff-Ahnis vom GKV-Spitzenverband, die ersten verschreibungsfähigen Apps. Die Kassen müssen in Jahr lang jeden beliebigen Preis der Apps zahlen. Erst dann werden Preisverhandlungen zwischen Herstellern und GKV-SV aufgenommen. „Hier sehe ich die große Gefahr, dass aus den Portemonnaies der Beitragszahler ein Jahr lang mehr bezahlt werden muss, als eine neue App tatsächlich wert ist“, so Stoff-Ahnis.
Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), stößt in das gleiche Horn: „Die Krankenkassen werden für solche Apps künftig viel Geld ausgeben, obwohl der Nutzen nicht ausreichend belegt ist“, sagt Gassen. Die Ausgaben könnten durch die Decke schießen, meint der KBV-Chef. Die Tinnitus-App kostet 116,97 Euro pro Patient im Quartal, die Anwendung zur Angststörung sogar 476 Euro. „Die Krankenkassen müssen das bezahlen, egal ob der Versicherte die App dann wirklich nutzt oder nicht“, gibt Gassen zu bedenken.
Anders verständlicherweise die Hersteller. Der Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung (SVDGV), Vertreter von 87 Mitgliedern, begrüßt die Entwicklung und spricht von „einem Meilenstein für die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung in Deutschland“. Die meisten Ärzte würden die Entwicklung schätzen. Allerdings fühlten sich mehr als die Hälfte von ihnen (56%) schlecht auf die neue Möglichkeit vorbereitet.
Deshalb kooperiert der SVDGV mit dem Hartmannbund und dem Bündnis junger Ärzte, um in einer Seminarreihe „für mehr Sachkenntnis und Verständnis“ zu sorgen. „Wir wollen etwas mit der Ärzteschaft bewegen und setzen auf die Digitalisierung“, sagt Max Tischler, Sprecher Bündnis Junge Ärzte und Mitglied des Leitungsgremiums des Ausschuss Assistenzärzte des Hartmannbund. „Mit dem SVDGV haben wir einen starken Partner an unserer Seite, um dieses Ziel zu verwirklichen. Gemeinsam mit dem Vertreter der App-Hersteller kann es uns gelingen, für ein breites Verständnis von DiGA unter Einbeziehung ärztlicher Expertise zu sorgen und die Gesundheitsversorgung in Deutschland auf ein neues Level zu heben.“
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Diesen Artikel so zitieren: Gesundheits-Apps auf Rezept in Deutschland als weltweit erstem Land – Apps gegen Tinnitus und Angst sind der Anfang - Medscape - 13. Okt 2020.
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