MEINUNG

„Dieses Jahr 2020 hat uns in Atem gehalten“: Echte Therapie-Fortschritte und die Kollateralschäden von Corona – das Wichtigste auf einen Blick

PD Dr. Georgia Schilling

Interessenkonflikte

7. Dezember 2020

PD Dr. Georgia Schilling zieht ihr Resümee eines außergewöhnlichen Jahres. Neben ihren Studien-Highlights will sie den Kollegen auch ein paar Gedanken für die nächsten Monate mit auf den Weg geben.

Transkript des Videos von PD Dr. Georgia Schilling:

Sehr geehrte Damen und Herren,

mein Name ist Georgia Schilling, ich bin Chefärztin der internistisch-onkologischen Rehabilitation in der Asklepios-Nordsee-Klinik in Westerland auf Sylt und gleichzeitig auch leitende Oberärztin im Asklepios-Tumorzentrum in Hamburg.

Ich freue mich, Ihnen – wie jedes Jahr – meine Highlights aus der Onkologie für das Jahr 2020 präsentieren zu dürfen.

COVID-19 hat uns dieses Jahr in Atem gehalten. Nach einer kurzen Verschnaufpause sind wir damit gerade wieder beschäftigt. Dies gilt für den privaten Bereich, aber natürlich auch für die Onkologie.

Zu diesem Thema gab es zahlreiche Sessions und Präsentationen auf den beiden großen internationalen Kongressen der ASCO ( Medscape berichtete) und der ESMO ( Medscape berichtete), die beide erstmals sehr erfolgreich komplett virtuell abgehalten worden sind.

Aber es gab auch viele hoffnungsvolle Studien im Bereich der onkologischen Therapie, die unsere Behandlungspraxis verändern werden. Davon möchte ich Ihnen einige vorstellen.

COVID-19 in der Onkologie

Die USA und auch Europa haben sehr zeitnah mit Beginn der ersten Welle Register zur Dokumentation der Verläufe von COVID-19 bei Krebskranken eingerichtet.

 
Knapp 80% starben an COVID-19, nur 10,6% am Tumor selbst. PD Dr. Georgia Schilling
 

Erste Ergebnisse sind bereits auf dem ASCO-Kongress im Juni präsentiert worden, beispielsweise vom COVID-19 and Cancer Consortium (CCC19) im Late Breaking Abstract 110[1]. Die Gruppe konnte zeigen, dass die Sterberate bei infizierten Krebspatienten deutlich höher ist als in der Allgemeinbevölkerung. Das muss uns zu denken geben!

Als Risikofaktoren konnten identifiziert werden:

  • höheres Lebensalter über 75 Jahre

  • schlechter Allgemeinzustand mit einem EGOG ≥ 2

  • progrediente Tumorerkrankung

  • Anzahl der Komorbiditäten

Auf diese Patienten müssen wir also in Zukunft noch mehr Acht geben. Aber die Corona-Pandemie darf nicht dazu führen, dass wir lebenswichtige Therapien wie Operationen an Tumoren, Bestrahlungen oder Systemtherapien verschieben oder den Patienten gar vorenthalten. Wir müssen daran arbeiten, den Patienten trotz COVID-19 die Angst vor der Therapie zu nehmen.

Eine 2. Studie zu Corona und Krebs wurde ebenfalls als Late-Breaking-Abstract auf dem ASCO-Kongress (LBA 111) [2] und dann auch auf dem ESMO-Kongress (LBA75) [3] vom TERAVOLT-Consortium vorgestellt ( Medscape berichtete).

Dort konnte zunächst gezeigt werden, dass COVID-19 die häufigste Todesursache bei verstorbenen Bronchialkarzinom-Patienten ist. In dieses Register werden nur Patienten mit Bronchialkarzinom aufgenommen.

Im Untersuchungszeitraum, der zum ASCO-Kongress noch ziemlich kurz war, starben 35% der eingeschlossenen Patienten, davon tatsächlich knapp 80% an COVID-19, nur 10,6% am Tumor selbst. Das ist eine unerwartet hohe Sterberate.

Auf dem ESMO-Kongress im September wurde ein Modell zur Prädiktion der Mortalität bei Patienten mit Bronchialkarzinom und COVID-19 vorgestellt, mit dem man berechnen kann, wie hoch das Sterberisiko für einen individuellen Patienten ist.

Berücksichtigt hierbei werden der ECOG-Performance-Status, das Alter, eine Steroid-Einnahme, das Stadium der Tumorerkrankung, der Raucherstatus und die Systemtherapie. Anhand dieses Nomogramms kann man für jeden Patienten das individuelle Risiko berechnen und dadurch sicher eine bessere Einschätzung treffen, ob und wann man den Patienten behandelt.

Wirkung von COVID-19 auf das medizinische Personal

COVID-19-Präsentationen haben sich aber nicht nur mit den Verläufen von Tumorerkrankungen und besonderen Risiken beschäftigt. Auf der ESMO-Konferenz im September wurden auch mehrere Studien präsentiert, unter anderem in der ESMO-Pressekonferenz, die sich mit uns als onkologisch tätigem Personal beschäftigt haben, sowie mit den Auswirkungen, die COVID-19 auf die Versorgung von Tumorpatienten hat (LBA 70 und LBA 76) [4,5].

 
Wir müssen uns als Ärzte aber auch vermehrt um uns selbst kümmern. PD Dr. Georgia Schilling
 

Von der ESMO Resilience Taskforce konnte gezeigt werden, dass die Studienaktivität in der Krebsforschung signifikant abgenommen hat, seit wir uns in der COVID-19-Pandemie befinden.

Die Patienten wurden häufiger telemedizinisch betreut, was inzwischen auch als nicht so verkehrt angesehen wird. Es gab mehr virtuelle Tumorkonferenzen und Unterrichtseinheiten als vorher, die zwar für gut befunden wurden, aber bei knapp 50% der Befragten nicht so gut ankamen wie Präsenzveranstaltungen.

Es wurde aber auch gezeigt, dass es zu mehr Therapieabbrüchen oder Verschiebungen von lebenswichtigen Therapien kam. Das sollte uns auf jeden Fall zu denken geben.

Was uns auch zu denken geben muss, ist, dass Distress und Burnout-Risiko im Verlauf der Pandemie beim onkologisch tätigen Personal gestiegen sind. Das war trotz besserer Performance und größerer Sicherheit im Umgang mit COVID-19 der Fall.

Das sind auch die beiden Punkte, auf die ich besonders hinweisen möchte: Wir müssen uns um die Ängste unserer Patienten kümmern, wir müssen uns aber als Ärzte auch vermehrt um uns selbst kümmern. 

Onkologische Highlights 2020

Nun komme ich zu den medizinischen Highlights im Jahr 2020. Da gab es Einiges, das passt gar nicht alles in diese Präsentation.

Positive Deeskalations-Studie bei Brustkrebs

Zum Beispiel wurde beim ASCO-Kongress 2020 ein Update zur 2016 veröffentlichten MINDACT-Studie präsentiert [6]. Dieses Update zur Frage, ob eine adjuvante Chemotherapie bei dieser Patientengruppe im Frühstadium etwas bringt ( Medscape berichtete), hat die Sicherheit der Risikoeinschätzung von dem Gentest MammaPrint beim frühen Mammakarzinom bestätigt.

Das ist umso wichtiger, weil ja auch in Deutschland nach dem G-BA-Beschluss vom Oktober alle Tests auf prädiktive Biomarker beim frühen Mammakarzinom zugelassen sind. Das ist sicher hilfreich in unserer täglichen Praxis.

Veränderung der Therapie beim lokal fortgeschrittenen Rektumkarzinom

Die ebenfalls auf dem ASCO-Kongress 2020 vorgestellte PRODIGE-23-Studie wird meiner Meinung nach die Therapie beim lokal fortgeschrittenen Rektumkarzinom verändern [7]. Sie hat gezeigt, dass die Hinzunahme von FOLFIRINOX vor der Radiochemotherapie, also die totale neoadjuvante Therapie, zu einer signifikant höheren pCR-Rate und zu einem signifikant verbesserten metastasenfreien Überleben führte. Die Lebensqualität war vergleichbar verbessert wie bei der derzeitigen Standardtherapie. Diese Studie wird sicher unsere tägliche Praxis verändern.

Immuntherapie auf dem Vormarsch

Die Immuntherapie war zu Recht ein Riesenthema auf allen Kongressen in diesem Jahr. Es konnte gezeigt werden, dass die Checkpoint-Inhibitoren weiter auf dem Vormarsch in der Therapie des Bronchialkarzinoms sind, jetzt aber auch zunehmend beim kleinzelligen Bronchialkarzinom.

Das lässt natürlich neu hoffen, dass die Immuntherapien auch bei dieser sehr schwer zu behandelnden Entität zu einer Prognoseverbesserung unserer Patienten beitragen.

Das Gleiche gilt für die urogenitalen Tumoren. Auch hier zeigt die Immuntherapie große Erfolge in verschiedenen Kombinationen mit anderen Immuntherapien, mit zielgerichteten Therapien und auch in den verschiedenen Therapiesettings.

Und dann möchte ich an die Presidential Session 3 auf dem diesjährigen ESMO-Kongress erinnern, die den Einzug der Immuntherapien zur Behandlung von Tumoren im oberen Gastrointestinaltrakt im fortgeschrittenen Stadium und auch in der Adjuvans gezeigt hat. Davon werden wir in der nächsten Zeit sicher noch viel hören, weil viele weitere Studien zu diesem Thema in der Pipeline sind.

Zielgerichtete Therapien mit neuen Angriffspunkten

Zu den zielgerichteten Therapien hier einige wenige Aspekte und Ausschnitte, die ich besonders bemerkenswert fand.

Ramucirumab, der VEGF-Antikörper, scheint eine neue Option in der Second-Line-Therapie beim Pleura-Mesotheliom zu sein. Das konnte beim diesjährigen ASCO-Kongress gezeigt werden [8].

Alpelisib, ein PIK3-Inhibitor, zeigte in der SOLAR-1-Studie beim Mammakarzinom und einer Progredienz unter Hormontherapie eine signifikante Verbesserung des progressionsfreien Überlebens bei Tumoren mit PIK3CA-Mutation [9]. Es lohnt sich also meiner Meinung nach, über eine PIK3CA-Mutationstestung bei diesen Patientinnen nachzudenken.

Der CDK4/6-Inhibitor Abemaciclib senkt beim Hormonrezeptor-positiven frühen Mammakarzinom bei Hochrisiko-Patientinnen die Rate an Rezidiven und Fernmetastasierung um 25 bis 28% im Vergleich zu einer alleinigen endokrinen Therapie [10]. Das wird meines Erachtens auch die Behandlung dieser Patientinnen verändern.

Beim BRAF-mutierten Kolorektalkarzinom hat sich eine Therapie aus einem BRAF-Inhibitor, dem Encorafenib, auch in der Kombination mit dem MEK-Inhibitor Binimetinib und mit Cetuximab bestätigt [11]. Die zielgerichtete Therapie war der Standardtherapie aus FOLFIRI, Irinotecan und Cetuximab überlegen ( Medscape berichtete). Das konnte auf dem ASCO-Kongress gezeigt werden. Auch in der Therapie des BRAF-mutierten Kolorektalkarzinoms wird sich sicher etwas verändern.

Lorlatinib verbessert das progressionsfreie Überleben beim ALK-positiven nichtkleinzelligen Bronchialkarzinom signifikant gegenüber dem langjährigen Standard Crizotinib ( Medscape berichtete). In der CROWN-Studie zeigte es auch eine intrakranielle Wirksamkeit [12]. Wahrscheinlich trägt das auch zu diesem sehr guten Ergebnis bei, Ich bin mir sicher, dass wir Lorlatinib demnächst auch in der Therapie wiederfinden werden.

 
Es ist sicher gut, virtuell zu arbeiten, live ist aber trotzdem immer noch besser. PD Dr. Georgia Schilling
 

Olaparib hat bei einer weiteren Entität Wirksamkeit gezeigt, nämlich beim metastasierten kastrationsresistenten Prostatakarzinom bei Patienten mit einer Mutation in BRCA1, BRCA2 oder ATM [13]. Also auch da gibt es eine neue zielgerichtete Therapieoption ( Medscape berichtete ).

Es gäbe noch viele weitere Ergebnisse, aber das würde den Rahmen sprengen.

Mein Fazit für dieses Jahr

COVID-19 hat natürlich einen signifikanten Einfluss auf uns, auf unsere Behandlungsteams und die Versorgung unserer Patienten, im positiven wie auch im negativen Sinne.

  • Es ist sicher gut, virtuell zu arbeiten, live ist aber trotzdem immer noch besser.

  • Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Patienten mit lebensbedrohlichen Erkrankungen in die Kliniken kommen und sich behandeln lassen.

  • Wir müssen uns auch um unser Befinden kümmern, auch das haben die Daten gezeigt.

Es öffnen sich durch die neuen vielversprechenden Ergebnisse tatsächlich neue Türen für unsere Patienten, von denen ich heute einen Teil vorstellen durfte.

Es wäre schade, wenn all das, was wir für unsere Patienten erreicht haben, einer COVID-19-Pandemie zum Opfer fallen würde.

In diesem Sinne danke ich Ihnen fürs Zuhören im Jahr 2020.

Bleiben Sie gesund! Vielen Dank.
 

Kommentar

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