Im Jahr 2019 haben Ärzte knapp 18 Millionen Rezepte für Reserveantibiotika im GKV-Bereich ausgestellt. Damit entfiel mehr als jede 2. dieser Verordnungen auf Reserveantibiotika. Und jeder 6. Versicherte hat mindestens ein solches Medikament erhalten. Das geht aus einer aktuellen Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) hervor [1].
„Die Verordnungen von Antibiotika der Reserve sind in den letzten Jahren zwar leicht rückläufig, aber ihr Anteil lag auch 2019 wieder besorgniserregend hoch“, sagt Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer der WIdO. So fielen im letzten Jahr laut WidO-Auswertung insgesamt 34 Millionen Verordnungen auf Antibiotika. Das entspricht etwa jeder 20. ambulanten Verordnung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).
Anteil von Reserveantibiotika in Deutschland so hoch wie vor 20 Jahren
Wie aus Berechnungen weiter hervorgeht, entfielen 53% dieser Verordnungen auf Reserveantibiotika; anhand der Alters- und Geschlechtsprofile der AOK-Versicherten Patienten wurden im vergangenen Jahr 12,1 Millionen GKV-Versicherte mindestens 1 Mal mit einem Reserveantibiotikum therapiert – also jeder 6. GKV-Versicherte (16,4%).
Damit liege der Verordnungsanteil immer noch so hoch wie zur Jahrtausendwende – und das, obwohl man davon ausgehen kann, dass im ambulanten Bereich üblicherweise eher harmlose Infektionen behandelt werden, so Schröder. Das kritische Hinterfragen jeder Antibiotikaverordnung und ein rationaler, leitlinienkonformer Einsatz von Reserveantibiotika sei daher weiter angezeigt.
Verordnungen in der Humanmedizin nur „Spitze des Eisbergs“
Das Institut weist darauf hin, dass der Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung das Problem verschärfe, da Wirkstoffe in die Nahrungskette von Konsumenten gelangten. Der Vergleich der Antibiotikamengen zeige laut WIdO, dass „die ambulanten Verordnungen in der Humanmedizin nur die Spitze des Eisbergs darstellen“. Während im Jahr 2019 rund 339 Tonnen Antibiotika der Versorgung von Patienten in Deutschland dienten, waren es in der heimischen Tierhaltung rund 670 Tonnen. Dazu zählen die Fleisch- und Milchproduktion sowie die Fischzucht. Insgesamt wurden laut Analyse im Jahr 2019 bei Mensch und Tier über 1.000 Tonnen Antibiotika eingesetzt, darunter mindestens 376 Tonnen Reserveantibiotika.
Nur 8 neue antibiotische Wirkstoffe in den letzten 10 Jahren
Neben einer behutsameren Verordnung in der Human- und Tiermedizin würden auch Antibiotika mit neuen Wirkprinzipien benötigt, die in der Lage seien, Resistenzen zu überwinden, betont das Institut. Doch hier scheine laut WIdO der betriebswirtschaftliche Anreiz zu fehlen. Unter den 316 neuen Wirkstoffen, die Hersteller in den letzten zehn Jahren in Deutschland auf den Markt gebracht hätten, seien nur acht neue antibiotische Wirkstoffe gewesen.
Schröder: „Im Bereich der Antibiotikaforschung wird in der Wissenschaft über eine grundsätzlich öffentliche Finanzierung von Forschung und Entwicklung diskutiert: Die pharmazeutische Industrie könnte dann im Rahmen von Lizensierungsmodellen die Produktion und den Vertrieb übernehmen.“
Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Univadis.de.
Medscape Nachrichten © 2020 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Reserveantibiotika stehen zu oft auf dem Rezeptblock von Niedergelassenen – doch das ist nur ein Problem von vielen - Medscape - 5. Okt 2020.
Kommentar