Bei mehr als der Hälfte aller klinischen Studien zu COVID-19 und sogar bei allen großen Impfstoffstudien fehlt diejenige Gruppe an Probanden fast vollständig, welche von den Erkenntnissen am meisten profitieren könnten: ältere Menschen. Dies bemängeln Forscher um Benjamin K. Helfand vom Department of Emergency Medicine der University of Massachusetts Medical School in Worcester [1].
Sie werteten sie für ihre Analyse 847 Studien aus, darunter 232 Phase-3-Studien, die sich mit den unterschiedlichsten Strategien gegen Corona-Infektionen beschäftigt haben.
Die meisten Corona-Toten waren älter als 65 Jahre
Dieser Ausschluss älterer Menschen von klinischen Studien schränke Möglichkeiten stark ein, Wirksamkeit, Dosierung und unerwünschte Wirkungen der vorgesehenen Behandlungen zu bewerten, kritisieren Inouye und ihre Kollegen. Sie bemängeln den altersbedingten Ausschluss besonders vor dem Hintergrund, dass weltweit zwischen 30 und 40% aller COVID-19-Patienten älter als 65 Jahre sind und in dieser Altersgruppe zudem mehr als 80% aller Corona-bedingten Todesfälle verzeichnet werden.
„Leider gibt es eine lange Geschichte des Ausschlusses älterer Menschen von klinischen Studien“, schreiben Helfand und Kollegen. Als Reaktion auf diesen Ausschluss haben die National Institutes of Health (NIH) bereits eine Richtlinie „Inclusion Across the Lifespan“ eingeführt und darin die Einbeziehung älterer Menschen in klinische Studien gefordert. „Daher haben wir nun alle COVID-19-Behandlungs- und Impfstoffstudien der Internetseite www.clinicaltrials.gov überprüft, um das Risiko für den Ausschluss älterer Menschen (≥ 65 Jahre) zu bewerten“, so die Autoren.
Bei mehr als jeder 5. Studie wurden Ältere per se ausgeschlossen
Sie stellten bei 195 von 847 Studien (23%) fest, dass ältere Menschen aufgrund festgelegter Altersgrenzen von vorneherein von den Untersuchungen ausgeschlossen worden waren. Unter den großen Phase-3-Studien war dies bei noch immerhin 38 der 232 analysierten Untersuchungen (16%) der Fall gewesen.
Noch höhere Zahlen fanden sich bei den indirekten altersbedingten Ausschlüssen, also bei solchen, die bevorzugt ältere Menschen betreffen – wie beispielsweise aufgrund von Bedenken hinsichtlich der Compliance (in 213 Studien) oder wegen altersspezifischer Begleiterkrankungen (in 68 Studien). „Kombiniert man die Ergebnisse der altersbedingten Ausschlüsse und der Ausschlüsse, die bevorzugt ältere Menschen treffen, weisen 447 Studien (53%) ein hohes Risiko für den Ausschluss älterer Menschen auf“, stellen die Forscher fest.
An Impfstoffstudien nehmen ältere Menschen so gut wie gar nicht teil
In den 232 klinischen Studien der Phase 3 hatten 77 (33%) Ausschlüsse, die vor allem ältere Menschen betreffen. Insgesamt, also durch direkte und indirekte Ausschlüsse zusammen, sehen Inouye und ihre Kollegen daher bei 115 aller Phase-3-Studien (50%) ein hohes Risiko für die Ablehnung älterer Menschen als Probanden.
Von 18 Impfstoffstudien hatten 11 Studien (61%) Altersgrenzen und die restlichen 7 hatten sogenannte „breite, nicht spezifizierte“ Ausschlüsse. Somit ermittelte das Team um Inouye für 100% der Impfstoffstudien ein hohes Risiko für den Ausschluss älterer Menschen.
Mit einer guten Planung ließen sich mehr ältere Menschen einbeziehen
„Wir wissen, dass einige Ausschlüsse wegen schwerer oder unkontrollierter Komorbiditäten erforderlich sind, um die Gesundheit und Sicherheit älterer Menschen zu schützen“, schreiben die Forscher. Dennoch sei Vorsicht geboten, um zu vermeiden, dass berechtigte Teilnehmer aus Gründen, die nicht gut begründet seien, von klinischen Studien ausgeschlossen würden.
Mit der richtigen Vorbereitung, einer guten Schulung des Personals und dem entsprechenden Fachwissen über das Altern sei die Rekrutierung älterer Menschen zu klinischen Studien zum Thema COVID-19 durchaus machbar, lautet das Fazit der US-Forscher. Und nur dadurch würden diese Studien so relevant und umfassend wie möglich.
Medscape Nachrichten © 2020 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Am meisten gefährdet, aber keine Studiendaten – Probanden über 65 in COVID-19-Studien meist nicht berücksichtigt - Medscape - 1. Okt 2020.
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