„Eine 1. Generation von COVID-19-Impfstoffen wird voraussichtlich Ende 2020 oder Anfang 2021 zugelassen“, schreiben Prof. Dr. Malik Peiris und Prof. Dr. Gabriel M. Leung von der University of Hong Kong in The Lancet [1]. Entgegen vielen Hoffnungen sehen sie in Vakzinen aber nicht die Wunderwaffe, um zur Normalität vor SARS-CoV-2-Zeiten zurückzukehren. Offen sind immunologische Fragen, aber auch praktische Aspekte zur Verteilung des Impfstoffs. 3 wichtige Fragen im Überblick:
1. Verhindert ein Impfstoff die weitere Übertragung von SARS-CoV-2?
Unter der Annahme einer Reproduktionsrate von 4 schätzen die Autoren, dass 25 bis 50% der Bevölkerung immun gegen SARS-CoV-2 sein müssten, um die weitere Ausbreitung des Virus einzudämmen. Die WHO empfiehlt, dass Impfstoffe eine Verringerung des Krankheitsrisikos um mindestens 50% aufweisen sollten. „Selbst, wenn Impfstoffe Schutz vor Krankheiten bieten könnten, könnten sie die Übertragung nicht unbedingt in ähnlicher Weise verringern“, so Peiris und Leung.
Beispielsweise zeigen Tierexperimente mit Primaten eine Verringerung der Symptome und der Viruslast in den unteren Atemwegen nach Impfungen. Viren bleiben jedoch in den oberen Atemwegen erhalten und werden verbreitet. Ob es bei Menschen wie erhofft zur sterilisierenden Immunität in den oberen Atemwegen kommt, muss sich zeigen.
„Immunologische Korrelate des Schutzes vor SARS-CoV-2-Infektion und COVID-19 sind auch noch unbekannt“, konstatieren die Autoren. Sie verweisen auf die unklare Rolle bereits vorhandener neutralisierender Antikörper. Die Idee, eine passive Immunisierung mit Rekonvaleszenten-Plasma zu erzielen, wird bekanntlich jedenfalls untersucht.
Weitere Fragen betreffen die Rolle der mukosalen Immunität, der Antikörper-abhängigen zellvermittelten Zytotoxizität und der T-Zellen bei natürlichen oder passiven Immunisierungen.
2. Wie lange schützen Impfungen vor Neuinfektionen?
Die Prävalenz und Dauer neutralisierender Antikörper-Antworten nach einer natürlichen Infektion müsse man noch mit besseren Neutralisationstests, bei denen Lebendviren anstelle von Neutralisierungstests verwendet würden, untersuchen, so die Experten. Bekannt ist: Bei Coronaviren, die Erkältungen auslösen, verschwindet der Schutz oft nach weniger als einem Jahr.
Vom verwandten MERS-CoV weiß man, dass sich Dromedare als natürliche Wirte reinfizieren können. Ob sie genauso infektiös sind wie bei einer Primärinfektionen, sei nicht bekannt, konstatieren die Autoren. „Die Beobachtung, dass MERS-CoV in Dromedar-Populationen trotz hoher (> 90%) Seroprävalenz bei jungen und erwachsenen Kamelen enzootisch ist, impliziert, dass die Virusübertragung durch eine frühere Infektion möglicherweise nicht funktionell unterbrochen wird.“
Ihr Fazit: „Diese Beobachtungen legen nahe, dass wir nicht davon ausgehen können, dass COVID-19-Impfstoffe, selbst wenn sie sich als wirksam bei der Verringerung der Schwere der Erkrankung erweisen, die Virusübertragung in hohem Maße verringern. Die Vorstellung, dass die durch COVID-19-Impfstoffe induzierte Immunität der Bevölkerung eine Rückkehr zur Normalität vor COVID-19 ermöglicht, könnte auf illusorischen Annahmen beruhen.“
3. Wie sollen Impfstoffe verteilt werden?
Neben immunologischen Aspekten werfe die Verteilung von COVID-19-Impfstoffen Fragen auf, so Peiris und Leung. Recht naheliegend verweisen sie auf Strategien vieler Länder, Menschen mit hohem Risiko für schwere Morbidität und Mortalität mit Vakzinen versorgen. Genau hier sehen die Autoren aber Handlungsbedarf: Von Influenza-Vakzinen weiß man etwa, dass sie bei älteren Menschen weniger neutralisierende Antikörper erzeugen. Wie es bei SARS-CoV-2-Vakzinen aussieht, bleibt abzuwarten.
Zur Verteilung selbst gibt es auch andere Überlegungen. Die US National Academy of Medicine beispielsweise definierte 2 weitere Kriterien, wer eine Impfung erhalten sollte: nämlich das Risiko einer Infektion und negative Auswirkungen auf die Gesellschaft, wenn derjenige ausfällt. Damit zählen z.B. Angestellte im Gesundheitswesen, aber auch Lehrkräfte zu den primär zu Impfenden.
Noch ein weiterer Punkt: „Entscheidungsträger müssen die möglichen Auswirkungen von Impfstoffkritik im Auge behalten“, heißt es im Artikel. Einige Politiker hätten schon die Befürchtung geäußert, das Vertrauen der Bevölkerung könne, etwa durch übereilte Zulassungen, weiter untergraben werden.
Strategien zur Verteilung von Impfstoffen sollten aber nicht nur auf die jeweilige Bevölkerung abzielen, ergänzen die Experten, sondern strukturelle und ökonomische Unterschiede diverser Länder berücksichtigen. Denn SARS-CoV-2 betreffe die ganze Welt, und eine verfrühte Reise-Freiheit könnte – bei ungleicher Verteilung der Vakzine – zu einer erneuten Ausbreitung der Infektionen führen.
Medscape Nachrichten © 2020 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Rückkehr zur Normalität eine Illusion? 3 Fragen, die deutlich machen, warum Corona-Impfstoffe kein Allheilmittel sind - Medscape - 28. Sep 2020.
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